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Es wurde viel gegessen, getrunken und gelacht. Berthold musste allen versprechen, regelmäßig zu schreiben, wie es ihm in Deutschland gehe und natürlich wollten auch ihm alle schreiben, was hier so passiere. Die üblichen Versprechen, die dazu gehören, wenn Menschen Abschied von einander nehmen. Am nächsten Morgen stand Berthold schon vor dem Morgengrauen auf, er wollte sich allein und in Ruhe vom Hof und seinen Tieren verabschieden. Seine Lieblingskatze Bobo sprang auf seine Schulter und begleitete ihn auf seinem Rundgang durch die Ställe. Der Abschied fiel ihm schwerer, als er gedacht hatte. Noch einmal ging er zum Bahndamm, zu der Stelle, an der ihn Marek vor über acht Jahren gefunden hatte. Und auf dem Rückweg zum Hof nahm er das Bild, das dieser in der Morgendämmerung bot, intensiv in sich auf. Dieser Hof war seine Rettung gewesen, er verdankte seinen Menschen so viel.

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ährend er sich dem Wohnhaus näherte, ging nach und nach in fast allen Fenstern das Licht an und leuchtete in die verschneite Landschaft. Es sah wunderschön aus und er würde dieses Bild nie vergessen. Als er den Weg zum Haus hinaufging, öffnete sich die Haustür von innen und der Lichtstrahl aus dem Haus ließ den Schnee vor seinen Füßen glitzern, als ginge er über einen Teppich von Diamanten. Dieser Anblick, löste ein solches Glücksgefühl in Berthold aus, dass er gar nicht anders konnte, er drehte sich mit ausgebreiteten Armen um sich selbst, auf diesem funkelnden Boden. So sah ihn Marek und er prägte sich dieses Bild, das soviel Glück ausdrückte, fest ein.

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er endgültige Abschied war dramatisch, mit vielen Tränen und guten Wünschen, besonders von Lydia. Marek lud schließlich den großen Koffer, in dem Bertholds Kleidung und Schulsachen waren, sowie auch die Decke, das Regencape und Annas blaue Strickjacke mit denen er Berthold gefunden hatte, auf die Kutsche. Lydia reichte Berthold noch einen Rucksack mit Reiseproviant, umarmte und küsste ihn zum letzten Mal, dann stiegen Marek und Berthold auf den Kutschbock und los ging es. Berthold drehte sich um und winkte, bis der Hof, Lydia, Karol, Sonja und Eva aus seinem Blickfeld verschwanden. Dann erst drehte er sich wieder nach vorn, legte Marek die Hand auf den Arm, mit dem dieser die Zügel hielt und als Marek ihn ansah, sagte er nur „Danke, danke für alles.“

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arek nickte und sie sahen sich minutenlang in die Augen und beide wussten, sie würden sich nicht verlieren, auch wenn ab jetzt ihrer beider Leben in verschiedenen Bahnen verlief. Am Bahnhof angekommen, half Marek Berthold den schweren Koffer von der Kutsche zu nehmen, schnallte ihm den Rucksack auf den Rücken, nestelte dann verlegen in seiner Jackentasche herum und brachte schließlich ein nagelneues Taschenmesser zum Vorschein. „Solltest es eigentlich erst zum Schulabschluss bekommen, aber kriegst es eben jetzt schon. Bitte sei nicht böse, aber ich kann dich nicht bis zum Bahnsteig begleiten. Ich gehe noch mit zur Rot-Kreuz-Station, aber dann fahre ich wieder. Hinter deinem Zug mag ich nicht herschauen.“ Dabei schluckte er verdächtig. Auch Berthold kämpfte um Fassung, als er das Taschenmesser in Empfang nahm. Dann gingen beide schnell und ohne sich anzusehen zur Tür der Station. Drinnen wurden sie von einer älteren Rot-Kreuz-Schwester empfangen, die Bertholds Ausweis prüfte, sich dann ihren warmen Mantel anzog, ihre Tasche nahm und ihn bat, ihr zum Bahnsteig zu folgen, da der Zug schon bald einlaufen werde. Marek nahm Berthold fest in die Arme, sagte: „Alles, alles Gute für dich mein Junge und Gottes Segen,“ dann drehte er sich um und ging schnellen Schrittes aus dem Bahnhof zu seiner Kutsche, stieg auf und rief mit heiserer Stimme: „Hüh, mein Mädchen, lauf, lauf nach Hause,“ dabei liefen dem guten Marek Tränen übers Gesicht. Es war ihm nie klar gewesen, wie sehr er diesen Jungen liebte. „Und ich weiß genau, Gott wollte, dass ich ihn finde,“ sagte er trotzig vor sich hin. „Ich habe ihn beschützt, wie du es wolltest,“ rief er zum schneeverhangenen Himmel hinauf, „jetzt bist du dran!“

Berthold spürte, wie es ihm die Brust zuschnürte, als er Marek nachblickte, sah, wie er ohne sich umzudrehen, auf den Kutschbock stieg und davon fuhr. Auch er weinte jetzt, denn er hatte soeben zum zweiten Mal einen Vater verloren. An seinen leiblichen Vater konnte er sich nicht wirklich erinnern, der hatte in seinem Bewusstsein nur als Bild eines Mannes in Uniform, welches zu Hause auf dem Nachttisch seiner Mutter gestanden hatte, existiert. Doch Marek war ihm ein wirklicher Vater gewesen, der ihn beschützt und getröstet, aber auch streng zum Arbeiten und Lernen angeleitet hatte. Und er hatte ihn den Glauben an
Gott gelehrt, mehr als dies der Religionslehrer oder der Priester gekonnt hatten. Marek war der beste Vater gewesen, den er sich hatte wünschen können. Er fühlte neben dem Schmerz über den Abschied, wie so etwas wie Angst vor dem, was auf ihn zukam, in ihm aufstieg. Würde er seine Mutter noch erkennen? Was ist, dachte er, wenn wir uns fremd sind? Ich bin nicht mehr der kleine Junge von damals, kann sie mich so wie ich jetzt bin überhaupt noch lieben? Er hatte all die Jahre nie zugelassen, dass Lydia ihren Platz in seinem Herzen einnahm und es war ihm anfangs auch nicht leicht gefallen, sie Mutter zu nennen. Immer wenn das Verhältnis zwischen ihnen zu vertraut wurde, hatte er abgeblockt, das Bild seiner Mutter heraufbeschworen und wieder mehr Distanz zu Lydia gesucht. Denn es war ihm wie Betrug an seiner geliebten Mama vorgekommen, eine innige Sohn-Mutter-Beziehung zu Lydia zuzulassen. Bei Marek war das anders gewesen, es hatte ihm keine Schwierigkeiten bereitet ihn Vater zu nennen, im Gegenteil, es hatte ihn glücklich gemacht, weil er sich zu diesem Mann hingezogen und von ihm beschützt fühlte. Und Marek hatte recht, alles stand in Gottes Hand, ihm musste er vertrauen. Er hatte ihm bisher geholfen und würde ihm auch weiter helfen. Hatte es nicht Gott gefügt, dass Sonja sich in Pavel verliebt hatte und dieser dadurch, dass er Bertholds Mutter ausfindig machte, einen Teil seiner großen Schuld von seiner Seele laden konnte? Ja, im Nachhinein konnte man durchaus eine gewisse göttliche Fügung erkennen. „So ist es gut“, dachte Berthold, „so muss ich es sehen, denn ich darf mein Gottvertrauen nicht verlieren, das habe ich Marek versprochen. Ich werde ihm so bald ich kann einen langen Brief schreiben und ihm alle meine Gedanken mitteilen, so wie ich es direkt nie konnte.“

Mitten in seine Gedanken drang das Geräusch des einfahrenden Zuges und er stieg in Begleitung der recht schweigsamen Schwester ein. Als sie im Abteil Platz genommen hatten, sie saßen sich gegenüber, fragte ihn die Schwester auf deutsch, wie es ihm gehe und ob er sich auf Deutschland freue? Im ersten Moment war Berthold verdutzt. Er brauchte einige Minuten, um sich die eben gehörten Worte bewusst zu machen, aber er verstand sie, verstand den Sinn der Frage. Doch er antwortete noch auf polnisch. Die Schwester lächelte und sagte: Schön, dass du meine Frage verstanden hast, bitte versuche doch, mir auch auf deutsch zu antworten. Lass dir ruhig Zeit, dann wirst du sehen, es kommt alles wieder und du kannst es. Ich bin zwar Polin, aber meine Mutter war Deutsche und mit mir hat sie zum Ärger meines Vaters heimlich immer deutsch gesprochen. Und wenn du als Kind deutsch gesprochen hast, dann ist das noch in dir, du musst dich nur wieder erinnern. Wir werden ab jetzt Deutsch miteinander reden, einverstanden?“

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erthold nickte nur und versuchte sich an die deutschen Worte zu erinnern. Marek hatte zwar damals, als er ihn gefunden hatte deutsch mit ihm gesprochen und auch vor gehabt, es öfter zu tun. Doch dann, im Lauf der Zeit, war es bei der Absicht geblieben, da der kleine Berthold sich große Mühe gab, genau wie die übrige Familie und die Kinder auf der Straße und in der Schule, zu sprechen. Er wollte kein Fremder, kein Außenseiter sein. Und so hatte er die polnische Sprache sehr schnell gelernt. Eine Menge Ausdrücke kannte er ja schon von Opa Josef und Oma Theresa. Die Krankenschwester machte im Zug dann ein richtiges Frage- und Antwortspiel in deutsch mit ihm. Und richtig, nach und nach bahnte sich seine Muttersprache, allerdings mit polnischem Akzent, wieder den Weg in sein Bewusstsein. Berthold war richtig aufgeregt und dieses Spiel machte ihm Spaß, sodass die Zeit der Zugfahrt, wie im Flug verging und er die Kontrolle an der deutsch-polnischen Grenze nur nebenbei wahrnahm.

Und außerdem verschwand durch die Konzentration auf die jeweils richtigen deutschen Worte, seine Anspannung in Bezug auf das Wiedersehen mit seiner Mutter. Die ältere Rot-Kreuz-Schwester hatte richtig Freude an dem aufgeweckten, freundlichen Jungen. Und beide lachten viel, wenn Berthold die Bedeutung mancher Worte und Begriffe verwechselte. Aber er wurde zusehends sicherer und schneller, im Verstehen, wie im Reden. So waren beide überrascht, als aus dem Zuglautsprecher die Worte: „In wenigen Minuten erreichen wir Friedland“ ertönten. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.12.2006