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Anna drängt, dass man doch den Zug erreichen müsse und immerhin sei es noch ein langer Fußmarsch bis zum Bahnhof. „Beruhige dich Anna, wir haben noch Zeit, Wilhelm wird uns mit der Kutsche zum Bahnhof bringen. Ich habe schon Wolldecken rausgelegt, denn wenn man still sitzt, wird es verflixt kalt, noch dazu werden wir den Fahrtwind spüren. Oma gibt dir ihr wollenes Kopftuch, ich habe auch eines. Und mit Wolldecken und warmen Kopftüchern werden wir es gut aushalten können. Wilhelm streicht Anna beruhigend über die Schulter, „bald kannst du deinen Jungen in die Arme schließen Anna, dann fängt für dich ein neues Leben an. Wir alle freuen uns mit dir. So, ich gehe jetzt und spanne die Pferde an.“ Er zieht die warme Winterjoppe an, setzt die Wintermütze auf, mit dem runtergeklappten Rand, damit die Ohren warm sind, nimmt eine Wolldecke vom Stuhl neben der Küchentür und geht hinaus in den Pferdestall. Konrad und Helma verabschieden sich von Elise und Anna, weil sie zur Schule müssen und Oma und Elisabeth packen noch schnell eine Brotzeit für die beiden Frauen ein.

A
nna fällt ein, dass ihre Handtasche mit Geld und den Papieren des Roten Kreuzes, in denen die Ankunftszeit von Bertholds Zug in Friedland steht, noch drüben in ihrer Wohnung ist, die hätte sie in ihrer Aufregung fast vergessen. Schnell läuft sie hinüber um sie zu holen. Dann steht Wilhelm auch schon mit der Kutsche auf dem Hof, die beiden Frauen steigen ein, Elisabeth und Oma reichen ihnen die Wolldecken, wünschen gute Fahrt und los geht es. Unterwegs fängt es tatsächlich an zu schneien und beide sind froh über die dicken wollenen Kopftücher. Als sie am Bahnhof ankommen, ist schon alles weiß verschneit. Auf den Kopftüchern von Elise und Anna sind weiße Häubchen. Und auch auf Wilhelms Mütze häuft sich der Schnee. Wilhelm verabschiedet sich kurz, verspricht, dass er sie am Nachmittag wieder abholen wird und fährt zurück.

Anna kauft die Fahrkarten, eine Tüte Zuckersteine und eine Tafel Schokolade. Dann gehen sie gemächlich zum Bahnsteig, auf dem wenige Minuten später der Zug nach Friedland einläuft. Im Zug ist es warm und sie bekommen Fensterplätze, an denen sie sich gegenüber sitzen können. Elise merkt, wie die Aufregung in Anna steigt und versucht, sie durch ein Gespräch abzulenken. Doch das gibt sie wieder auf, denn Anna hört ihr überhaupt nicht zu. Annas Herzschlag nimmt zu, sie starrt aus dem Zugfenster, ohne etwas wirklich zu sehen. Ihre Gedanken sind bei Berthold, sie sieht ihn vor sich, wie er mit Hexie in ihrem Garten spielte, wie er strahlte, wenn es sein Lieblingsessen gab und wie er verschlafen morgens in ihr Bett kam, an den Sonntagen und sich an sie gekuschelt hat. Und dann schließt sie die Augen und stellt sich wieder vor, wie sie gemeinsam am Bahndamm liegen, die Sonne auf ihren Rücken, Gesicht an Gesicht, wie sie es sich so oft vorgestellt hat in den vergangenen acht Jahren. Elise kann sich gut in Annas Gemütszustand hineinversetzen und auch sie muss jetzt wieder, wie so oft, an ihre beiden Kinder denken, die sie nie wieder in ihre Arme schließen kann.

D
ie Sehnsucht nach ihnen lässt nie nach. Und wie immer, wenn sie so intensiv an die Beiden denkt, steigen ihr Tränen in die Augen. „Vielleicht war es doch keine gute Idee von mir, Anna zu begleiten, ich werde neidisch auf ihr Glück und das will ich auf keinen Fall,“ denkt Elise. „Ich habe meine beiden Kinder in all den Jahren bei mir gehabt, habe meinen Mann an meiner Seite, ein Zuhause und eine große Verwandtschaft, wie kann ich da nur eine Sekunde meiner besten Freundin ihr Glück neiden.“ Und sie schämt sich für diesen schwachen Moment des Egoismus.

Liebevoll nimmt sie Annas Hand in die ihre und sagt leise: „Erzähl mir von ihm, erzähl mir wieder die Geschichten von damals. Heute wirst du sie ohne Tränen erzählen können und dann begraben wir die Vergangenheit und träumen von deiner und Bertholds Zukunft. Anna lächelt sie dankbar an, ja genau das tut ihr jetzt gut, eine Freundin, die weiß was in ihr vorgeht und was sie empfindet. Und wieder einmal erzählt sie Elise von den glücklichen Jahren zu Hause mit ihrem kleinen Jungen. Und diesmal ist ihre Stimme nicht verzweifelt, sondern voller froher Erwartung und in der Erinnerung an seine kindlichen Streiche, kann sie ganz befreit mit Elise lachen, anstatt wie früher, in Tränen auszubrechen. So vergeht ihnen die Zeit im Nu, bis sie in den Bahnhof von Friedland einlaufen. Jetzt bricht bei Anna wieder Panik aus, wird er mich erkennen, wird er mich überhaupt noch mögen? Hat diese Frau, die in den letzten acht Jahren Mutterstelle an ihm vertreten hat, mich aus seinem Herzen verdrängt? Ihr Herz rast, als sie die Bahnhofshalle betreten und sich nach der Rot-Kreuz-Station umsehen, in der sie sich melden sollen. Elise sieht Anna ihre Panik an, nimmt sie energisch an der Hand und betritt mit ihr das Büro der Vermisstenstelle des Roten Kreuzes. Anna legt ihre Papiere vor und erfährt, dass Bertholds Zug Verspätung hat, aber in etwa zwanzig Minuten einlaufen wird. So können in Ruhe alle Formalitäten, Anna betreffend erledigt werden. Wenn dann Berthold eintrifft, der von einer Mitarbeiterin des Roten Kreuzes begleitet wird, sind die restlichen bürokratischen Vorgänge schnell erledigt und die drei können mit dem nächsten Zug, der in zwei Stunden fährt, wieder zurückfahren. Anna löst eine Fahrkarte für Berthold und dann gehen die
beiden Frauen wieder zum Bahnsteig, um Berthold am Zug zu erwarten.

In den Tagen nach der glücklichen Nachricht über Bertholds Mutter war viel zu tun. Berthold musste in der Schule abgemeldet werden, seine Sachen wollte Lydia alle noch in Ordnung bringen, alles sollte sauber und ordentlich sein. Es war Lydias Ehrgeiz, dass Bertholds Mutter nicht schlecht von ihr denken sollte. Sie sollte schon an den Sachen merken, dass ihr Junge es gut gehabt hatte bei ihr und Marek. Berthold fiel nicht nur der Abschied von diesen liebenswerten Menschen schwer, auch die Tiere, der Hof und die ganze Umgebung waren ja Teil des Zuhauses, welches er hier gefunden hatte. Marek wurde nicht müde, immer wieder zu betonen, dass alles „Gottes Wille“ gewesen sei. Er mochte gar nicht daran denken, wie sehr ihm dieser ruhige, intelligente Junge fehlen würde. Er wusste, dass es Bertholds heimlicher Wunsch war, vor seiner Abreise nach Deutschland noch einmal „Oma Theresa und Opa Josef“ zu sehen. Doch Marek, der von der extremen Deutschenfeindlichkeit der Kinder dieser Beiden wusste, wagte nicht, ihn dorthin fahren zu lassen. Pavel und Berthold zusammen ging auch nicht.

D
a kam Pavel auf die Idee, die beiden hierher zu holen. Er sprach mit seinem Vorgesetzten und bekam die Genehmigung, für einen Tag den Dienstwagen zu nehmen. In der Nacht fuhr er noch los, um Josef und Theresa zu einer wichtigen „Zeugenbefragung“ abzuholen. Die beiden fielen aus allen Wolken, als am Vormittag ein Polizeiwagen vorfuhr und sie zu einem angeblichen Gerichtstermin abholen wollte. Gott sei Dank war ihr Sohn nicht zu Hause und nach dem Pavel mit der Wahrheit herausgerückt war, freuten sie sich unbändig und waren sofort bereit, das Spiel mitzuspielen. Also mussten sie nur der Schwiegertochter etwas vormachen, was nicht allzu schwer war. Nur, dass sie unbedingt den Dackel mitnehmen wollten, verstand sie nicht. Denn schließlich waren sie und die Kinder ja zu Hause und Hexie lag doch sowieso lieber in irgendeinem Bett der Kinder, als in einem Auto zu fahren, zumal sie noch nie in einem Auto gesessen hatte. Und was wollten sie denn bei Gericht mit einem Hund? Es gab tatsächlich keine plausible Erklärung dafür und so blieb Hexie zu Hause. Nachmittags kamen sie auf dem Hof an, Pavel ließ sie aussteigen und wendete sofort wieder, nachdem er den Rückfahrttermin für den frühen Abend angesetzt hatte. Er wollte auf keinen Fall Berthold begegnen.

Es war eine Riesenfreude, als die drei sich wiedersahen, es gab so viel zu erzählen und die Stunden vergingen viel zu schnell, bis draußen die Hupe von Pavel zu hören war. Der Abschied war tränenreich, denn sie wussten, sie würden sich nicht wiedersehen. Theresa gab Berthold ihre Halskette, mit der Bitte, sie Anna zu geben und sie solle sie eines Tages an die Frau weitergeben, die Berthold einmal heiraten werde. Als eine Erinnerung an „Oma Theresa“. Berthold dankte ihr und drückte sie noch einmal ganz fest an sich. Auch Josef nahm ihn fest in die Arme, sagte: „Grüß deine liebe Mutter von uns und sag ihr, wir haben sie nie vergessen. Und versprich mir, dass du wenn du erwachsen bist, gut für sie sorgen wirst. Und zwing ihr niemals deinen Willen auf, sonst verlierst du ihr Herz.“ Bei diesen Worten, zitterte seine Stimme verdächtig und Theresa zog ihn schnell mit hinaus auf den Hof, wo Pavel schon wartete. Berthold war erwachsen genug, um zu wissen, dass Josefs letzte Worte, alles über das Verhältnis von Theresa und Josef zu ihrem Sohn aussagten.

Den letzten Tag vor Bertholds Abreise, hatten sich Sonja und Eva frei genommen und die ganze Familie feierte mit Nachbarn und Schulfreunden den Abschied von Berthold. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.12.2006