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In dieses Gewusel der fünf Frauen in der Küche, kamen Wilhelm und Adolf der Knecht, die eigentlich damit rechneten, dass sie ein Mittagessen auf dem Tisch vorfänden. Oma drehte sich kurz zu ihnen um, als sie in der Tür standen und sagte kurz angebunden: „Wir essen heute später, ich rufe euch dann.“ Genauso erging es Konrad und Helma, als sie aus der Schule kamen. Sie wurden sofort in das kleine Wohnzimmer neben der Küche geschickt, das vom Küchenherd mitgeheizt wurde, um dort erst ihre Schularbeiten zu machen, bevor es Mittagessen gebe. Die Beiden waren natürlich neugierig und wollten unbedingt wissen, was denn mit der Tante Anna sei, warum sie auf dem Sofa liege? Doch drei strenge Frauenstimmen riefen „Raus mit Euch!“ Na, was will man da machen? Schularbeiten und nebenbei an der Tür horchen!

Langsam tauchte Anna aus dem Nebel der Bewusstlosigkeit auf. Da war doch etwas, hatte sie richtig gehört, Berthold lebte? Oder hatte sie nur geträumt? Sie öffnete vorsichtig die Augen und sah vier grinsende Gesichter über sich. Elise half ihr, sich aufzurichten, Oma hielt ihr ein Gläschen Likör hin, Elisabeth massierte ihr überflüssigerweise die Füße und Frau Friedrich fragte, hast du mich verstanden Anna, hast du mich verstanden? Ein warmes, gewaltiges Gefühl, wie sie es nur nach Bertholds Geburt gefühlt hatte, durchflutete Annas Körper, mit nichts zu vergleichen, Glück pur! Ihre Wangen röteten sich wieder, ihre Augen strahlten und mit einem seligen Lächeln sagte sie: „Nein, ich habe dich nicht verstanden, bitte sag es noch einmal und dann ganz ausführlich. „In spätestens einer Woche, ist dein Junge bei dir, Anna,“ sagte Frau Friedrich strahlend und wiederholte ihr dann das Telefongespräch Wort für Wort. Und dann noch einmal, denn Anna wollte es noch einmal hören. Dann breitete sie ihre Arme aus und umarmte die vier Frauen, die ihre Freundinnen geworden waren, überglücklich.

Nachdem die Frauen noch eine halbe Stunde lang aufgeregt durcheinander geschwatzt hatten, nahm Frau Friedrich Anna mit zum Bürgermeisteramt, denn Formulare mussten ausgefüllt und Telefonate geführt werden. Oma lud Anna zum Mittagessen ein und diese versprach, in einer Stunde wieder da zu sein. In der Zwischenzeit gaben sich Elise, Oma und Elisabeth Mühe, ein festliches Essen zustande zu bringen, denn dies war ein großer Tag. Endlich wurden auch die Kinder und Männer informiert und als Anna zurückkam, erklärte Wilhelm den Tag zum Festtag und holte eine Flasche Wein aus dem Keller, die sie zum Essen tranken. Der eilig zubereitete Pudding war noch nicht ganz kalt und fest, obwohl Elise ihn in die kalte Januarluft auf das Fensterbrett gestellt hatte, aber er schmeckte allen vorzüglich, ebenso, wie zuvor das Kasseler mit Sauerkraut und die leckeren Stampfkartoffeln mit gerösteten Zwiebeln.

A
n sich war ja heute gebrannte Grießsuppe geplant gewesen, weil Waschtag sein sollte, aber wenn ein verloren geglaubtes Kind wiedergefunden wird, muss man das feiern. Dieser Meinung war auch die sonst immer sehr sparsame Oma Trebeis. Überhaupt brach bei den Frauen jetzt die totale Hektik aus: Annas Zwei-Zimmer-Wohnung muss so umgestaltet werden, dass Anna in der Wohnküche schlafen kann und Berthold das andere Zimmer für sich allein hat. Also wird geplant, Annas Bett mit großen Kissen und einer Wolldecke, so umzugestalten, dass es wie ein Sofa aussieht, auf dem man tagsüber sitzen kann. Abends kann Anna die großen Rückenkissen, die allerdings noch genäht werden müssen, herunter nehmen und hat dann ein Bett. Das Bettgestell, welches in Bertholds Zimmer stehen soll, wollen die Frauen hellgrün, mit weißen Kanten, streichen, ebenso zwei Stühle und einen kleinen Tisch, der ihm als Schreibtisch dienen soll. Der große Kleiderschrank, der für Beide ausreicht, kommt auch in Bertholds Zimmer. Es wird etwas eng in der Wohnküche, aber als alles fertig ist, doch sehr gemütlich. Elisabeth sitzt jeden Tag von morgens bis abends an der Nähmaschine, um Kissenbezüge und Bettbezüge für Anna zu nähen. Außerdem ein schönes helles Kleid und zwei Röcke und zwei Blusen, denn Anna will schön sein für ihren Sohn. Sie ist extra in die Kreisstadt gefahren und hat sich Stoffe gekauft und als Dankeschön auch Stoff für Oma, Elise und Elisabeth. Gut, dass sie in den vergangenen Jahren fast nichts für sich ausgegeben hat, und so das meiste von ihrem Verdienst als Arzthelferin sparen konnte.

E
s geht eine sichtliche Verwandlung mit Anna vor: Sie, deren Äußeres immer möglichst unscheinbar und unvorteilhaft wirkte, blüht plötzlich auf und hat keine Scheu mehr, ihre gute Figur, ihr wunderschönes Haar, ihr ebenmäßiges Gesicht mit den großen strahlend blauen Augen, zu zeigen. Die glückliche Erwartung scheint sie wie ein Strahlenkranz zu umgeben. Für die Menschen im Dorf ist Annas Verwandlung und ihr Schicksal, das Tagesgespräch.

B
esonders Helma ist von ihr fasziniert. In dieser Woche beeilt sie sich immer besonders, wenn sie Schularbeiten macht, denn sie kann es nicht erwarten, wieder ins Ellerhaus zu Tante Anna zu gehen und zu beobachten, wie sie sich verändert. Einige Frauen aus dem Dorf, die Anna mögen und in den letzten Jahren ein gutes Verhältnis zu ihr aufgebaut haben, bringen kleine Geschenke für ihren zukünftigen Zwei-Personen-Haushalt: Gläser, zusätzliches Besteck, eine schöne Tischdecke, zwei Vasen, eine besonders schöne Wolldecke, Handtücher, Geschirrtücher, ein Lexikon für Berthold und sogar ein altes Radio. Anna ist gerührt und dankbar.

Am Abend vor dem großen Tag des Wiedersehens, nimmt Anna in der großen Zinkwanne in der Waschküche ein Bad und wäscht ihre langen, blonden Haare und spült sie mit Kamille. Helma kommt sie später noch einmal besuchen und sieht staunend, wie Anna etwas Zuckerwasser über die Haare streicht und dann mit den Fingern und dem Kamm Wellen hineindrückt und mit Haarklemmen festhält. Dann setzt sie sich in ihrer Wohnung vor den Herd und lässt die Haare trocknen. Als sie trocken sind, zieht sie die Klemmen heraus und die Wellen bleiben auch nachdem Anna die Haare durchgebürstet hat. Sie schlingt die langen Haare zu einem lockeren Nackenknoten und zieht die Wellen vorne etwas seitlich in die Stirn. Das sieht sehr elegant aus, findet Helma. Und versucht es in den nächsten Tagen oft mit ihren eigenen Haaren zu machen. Aber bei ihren glatten Haaren will es nichts Richtiges werden. Und es kränkt sie, dass Konrad sich über ihre Versuche lustig macht. Doch sie versöhnen sich schnell wieder, denn die Neugier auf den fremden Jungen, der morgen auf dem Hof einziehen wird lässt sie vor dem Schlafengehen noch lange darüber tuscheln, wie er wohl sein wird, ob er deutsch spricht, oder sie ihn vielleicht gar nicht verstehen können. Die Aufregung ist bei allen groß.

A
nna schläft in dieser Nacht fast gar nicht. Abends um zehn, fällt ihr noch ein, einen Kuchen zu backen. Dann geht sie immer wieder durch Bertholds Zimmer, streicht die Decke glatt, rückt den Stuhl hin und her und legt den als Geschenk eingepackten Stapel Hefte, die sie für ihn geschrieben hat, mal rechts auf den Tisch, mal links. Überlegt, wie sie in der nächsten Zeit mit Bertholds Hilfe, das Zimmer noch verschönern könnte. Legt sich endlich in ihr Bett um zu schlafen, steht aber nach einer halben Stunde schon wieder auf, um ihm einen Willkommensbrief zu schreiben, den sie ihm auf sein Kopfkissen legt. Legt sich wieder hin, nur um kurz darauf wieder aufzustehen. Es ist nicht an Schlafen zu denken. Endlich, endlich dämmert es, der Himmel sieht nach Schnee aus. Schade, denkt Anna, dann kann ich nicht meine schönen neuen Schuhe anziehen. Muss ich doch die alten schwarzen Schnürstiefel mit der dicken Gummisohle anziehen. Doch gleich darauf schämt sie sich dieses Gedankens, schließlich geht es heute um das Wichtigste in ihrem Leben, wie unwichtig ist es da, welche Schuhe sie anziehen kann. Wie schön ist es, dass sie überhaupt die Möglichkeit hat, zwischen verschiedenen Schuhpaaren auswählen zu können. Nach dem schrecklichen Dunkel der Nachkriegsjahre, geht es jetzt aufwärts und ab morgen wird jeden Tag die Sonne für Anna scheinen, weil Berthold bei ihr ist! Nie hat sie sich so nach einem Menschen gesehnt, wie nach ihrem Sohn! Auch als sie ganz frisch verliebt war in ihren Mann, war das Gefühl von Sehnsucht und Glück nicht annähernd so stark wie jetzt, da sie auf ihren Sohn wartet. Oma Trebeis, der als junge Frau auch ein Kind gestorben war, hatte einmal gesagt: „Ein Mann lebt an deiner Seite, aber ein Kind lebt in deinem Herzen, darum tut die Trennung auch so furchtbar weh und die Wunde verheilt nie, so lange du lebst.“

Anna frühstückt schnell, deckt den Tisch dann mit der neuen schönen Decke, Kaffeegeschirr, einigen Tannenzweigen, auf die sie Sterne und Monde vom Weihnachtsschmuck legt und stellt in die Mitte, den in der Nacht gebackenen Kranzkuchen. Zufrieden betrachtet sie ihr Werk, zieht den Mantel über und läuft hinüber zu Trebeiss, um Elise abzuholen, die sie nach Friedland begleiten wird. Elise ist noch nicht fertig, sondern sitzt noch mit der Familie am Frühstückstisch. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.12.2006