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Berthold war froh, die Küche verlassen zu können, er musste jetzt wirklich allein sein. In seiner Kammer warf er sich auf sein Bett und weinte. In seinem Kopf und seinem Herzen ging alles drunter und drüber, er wusste nicht, ob er vor Glück weinte, oder um die verlorenen Jahre. Doch nachdem er lange geschluchzt hatte und nun die Tränen versiegten, kam langsam wieder Klarheit in seinen Kopf. Er setzte sich auf und sofort kam seine Lieblingskatze Bobo, die tagsüber gern auf seinem Bett schlief, auf seinen Schoß. Und während er sie streichelte und ihr Schnurren ihn beruhigte, kam ihm die Erkenntnis, dass er Marek und Lydia wahrhaftig keine Vorwürfe machen durfte. Sie hatten ihn aufgenommen, wie einen eigenen Sohn. Er hatte es immer gut gehabt bei ihnen. Während die meisten Menschen in diesen Jahren Hunger und Not kennen gelernt hatten, ohne ein eigenes Dach über dem Kopf, war es ihm sehr gut gegangen in Mareks und Lydias Obhut. Wer war er, dass er diesen guten Menschen Vorwürfe machen durfte? Vielleicht hatte ja Marek recht, vielleicht war wirklich alles Gottes Wille, dessen Sinn wir nicht verstehen, weil wir nur unsere kleine Position sehen und nicht das große Ganze. Hätte Hitler-Deutschland diesen Krieg gewonnen, wäre er nicht von seiner Mutter getrennt worden, aber wie viele Völker, auch die Polen, hätten diese wahnsinnigen Nazis dann, nach den Juden, noch vernichtet?

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ieß es nicht in der Bibel, die Sünden der Väter werden gerächt an den Kindern? Berthold war von Marek und Lydia sehr katholisch erzogen worden. Und dieser Glaube half ihm, Klarheit in seine Gedanken zu bringen und neben dem großen Glücksgefühl über das Auffinden seiner Mutter, auch Dankbarkeit für Marek und Lydia zu empfinden. Er wischte sich die Tränen ab, setzte die Katze wieder auf sein Bett, wo sie sich zusammenrollte und ging hinunter in die Küche um seine Freude mit den Menschen, die in den letzten Jahren seine Familie gewesen waren, zu teilen.

Als Berthold wieder die Küche betrat, saßen neben Marek, Lydia und Sonja, auch Karol und Eva, die inzwischen nach Hause gekommen war, um den großen Esstisch. „Entschuldigt mein Benehmen von vorhin,“ sagte Berthold und ging zu Lydia, umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dicht an ihrem Ohr sagte er: „Du warst mir eine gute Mutter und du wirst immer meine Mutter Lydia bleiben, ich danke dir für alles, was du für mich getan hast in den vergangenen Jahren.“ Und dann an alle gewandt: „Ihr seid eine lange Zeit in meinem Leben meine Familie gewesen. Ich habe großes Glück gehabt, dass du, Vater, mich damals gefunden hast. Auch du wirst für mich immer mein Vater Marek bleiben. Nach allem was ich heute von den schrecklichen Vorkommnissen in dieser Zeit weiß, hätte mich ein schlimmes Schicksal, vielleicht sogar der Tod erwarten können. Ich möchte euch allen danken und versichern, dass ihr immer meine Familie bleibt, auch wenn ich nicht mehr bei euch leben werde. Ich möchte den Kontakt zu euch nie verlieren und ich hoffe, es geht euch genauso mit mir.

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enn wenn ich jetzt auch so schnell wie möglich wieder zu meiner Mutter möchte, heißt das doch nicht, dass ich euch vergessen werde. So wie in all den Jahren meine Mutter immer in meinem Herzen geblieben ist, werdet auch ihr immer einen Platz dort haben. Ich liebe euch alle.“ Und dabei sah er alle der Reihe nach lange und nachdrücklich an. Marek, dem vor Rührung die Tränen in die Augen traten, dachte: „Was für in erstaunlicher Junge, er ist so erwachsen für sein Alter. Und wie wunderbar er sich ausdrücken kann.“ Er war voller Stolz, so als sei Berthold sein leiblicher Sohn. Dann trat er zu Lydia und Berthold und umarmte den Jungen so heftig, dass er „Hilfe, du erdrückst mich,“ schrie. Daraufhin standen auch Karol, Sonja und Eva auf und vor Rührung weinten und lachten sie gleichzeitig und umarmten ihren „Bruder“ Berthold. Lydia, die tief bewegt war von Bertholds Worten, wischte sich die Tränen ab, räusperte sich und sagte: „Jetzt wird gefeiert, wenn wir dich schon nur noch wenige Tage hier haben, wollen wir nicht trauern, sondern uns mit dir freuen und fröhlich sein.

Oma Trebeis, Oma Trebeis,“ die Stimme von Frau Friedrich, schallte durch das ganze Haus. Die so Gerufene kam eilig aus der Waschküche, in der sie den Kessel für die große Wäsche anheizte. „Mein Gott, Frau Friedrich, was ist denn los, sie schreien ja alle Welt zusammen.“ „Wissen sie wo ich Anna Watzlav finde, ich hab ihr nämlich eine gute Nachricht zu bringen. Stellen sie sich vor, Oma Trebeis, wir haben endlich ihren Sohn gefunden. Er lebt in Polen auf einem Bauernhof. Ich habe eben mit der Vermisstenstelle des Roten Kreuzes telefoniert. Ein polnischer Polizeiinspektor hat dort angerufen und nach einer Anna Watzlav gefragt, die bei einem Vertriebenentransport 1945 ihren Sohn Berthold, geboren 1939, verloren hat. Ist das nicht eine wunderbare Nachricht? Ach, ich bin so aufgeregt, wo ist die Anna denn bloß, in der Wohnung war ich schon, dort ist sie nicht.“ Sie ist mit Elise zum Backhaus gegangen, um ihr beim Tragen der Brotdielen und Kuchenbleche zu helfen. Aber sie müssen jeden Moment wiederkommen. Komm mit mir in die Küche, wir warten dort auf die Beiden, ich muss sowieso nach dem Mittagessen schauen. Ach Gott, ist dass eine Freude.“

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ls sie ins Haus kamen, begegnete ihnen Elisabeth mit einem Wäschekorb voller Bettwäsche, die sie gerade in die Waschküche bringen wollte. „Sie haben Annas Sohn gefunden, Elisabeth,“ sagte Oma Trebeis, woraufhin Elisabeth den Korb einfach fallen ließ. Die Wäsche war ihr jetzt egal, diese Nachricht war so wunderbar, dass alles andere unwichtig wurde. Sie freute sich für Anna und war natürlich neugierig, was Frau Friedrich zu berichten hatte, darum folgte sie den Beiden in die Küche. Frau Friedrich erzählte noch einmal von dem Telefonanruf und alle drei konnten es kaum erwarten, diese frohe Botschaft Anna mitteilen zu können.

Elise trug eine lange schmale Diele, auf der sechs Laibe frisch gebackenes, duftendes Brot lagen, auf ihrer linken Schulter. Die linke Hand stützte sie auf die Hüfte, um die Schulter nicht hängen zu lassen und mit der rechten hielt sie das lange Brett fest, um das Gleichgewicht zu halten. Ohne Sicherung oder Halterung, nur mit ihrer Körperhaltung balancierte sie das Gewicht der brotbeladenen Diele aus und trug sie sicher nach Hause. Anna trug zwei große Bleche Hefekuchen mit dicken Zuckerstreuseln. Fröhlich schwatzend gingen sie, vom Backhaus die Straße hinunter, nach Hause. Anna ging mit den beiden Blechen voraus und dann seitlich durch die offene Haustür, wobei sie rief: „Die Küchentür auf, wir kommen,“ denn schon stand Elise mit den Brotdielen auf ihren Schultern hinter ihr. Keine hatte eine Hand frei, um die Tür zu öffnen.

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lisabeth riss die Küchentür auf und nahm Anna schon einmal ein Blech ab und trug es in die Speisekammer. Oma nahm ihr das andere ab und reichte es gleich weiter an Elisabeth. Anna hatte Frau Friedrich noch gar nicht gesehen, weil sie sich gleich umdrehte, um Elise zu helfen die lange Diele abzunehmen und vorsichtig über die Lehnen zweier Küchenstühle zu legen, die Oma schnell hingeschoben hatte. Dann reichten Elise und sie die Brote an Oma weiter, die sie Elisabeth in der Speisekammer gab, wo sie in einen großen Blechkasten gelegt wurden, damit sie nicht austrockneten und hart wurden. Erst als sie die Diele ebenfalls in der Speisekammer verstaut hatten, bemerkten Anna und Elise Frau Friedrich, die vor Aufregung einen feuerroten Kopf hatte und auf den richtigen Moment für ihre frohe Nachricht wartete. Sie begrüßten Frau Friedrich, die jetzt endlich die gewünschte Aufmerksamkeit Annas für sich hatte.

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ie wollte die Nachricht so fröhlich hinausschmettern, wie sie es bei Oma Trebeis getan hatte, doch jetzt klang ihre Stimme kratzig und belegt: „Anna, vor einer halben Stunde hat die Vermisstenstelle des Roten Kreuzes bei mir angerufen, sie haben deinen Sohn gefunden, er lebt in Polen bei einer Familie auf einem Bauernhof. Es geht ihm gut.“ Schon bei den ersten Worten von Frau Friedrich, war alles Blut aus Annas Gesicht gewichen, sie hörte noch: Sie haben deinen Sohn gefunden, er lebt in Polen, dann sackten ihr die Beine weg und sie fiel in ein Nichts. Elise und Elisabeth hatten hinter Anna gestanden und konnten sie gerade noch auffangen und auf das Sofa legen.

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ma dachte: Wie lange ist es jetzt schon her, dass Wilhelm Elise hier auf das Sofa gelegt hat, als er ihr sagen musste, dass Heinrich tot ist und sie daraufhin ohnmächtig wurde. Es scheint egal zu sein, ob es gute oder schlechte Nachrichten sind, wenn sie den Menschen in seiner tiefsten Seele erschüttern, schaltet er einfach ab. Gleich, ob es so viel Leid ist, dass man es nicht ertragen kann, oder so viel Glück. Sie packten Anna zwei Sofakissen unter die Beine und legten ihr nasse, kalte Umschläge auf die Stirn. Elisabeth rannte in ihr Zimmer, um ein Fläschchen Kölnisch Wasser zu holen und es Anna unter die Nase zu halten und ihr die Schläfen damit einzureiben.


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.12.2006