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Das wäre ihm zu unangenehm gewesen. „Hier hast du die Anschrift Berthold, jetzt kannst du ihnen schreiben und lass mich bitte in Ruh. Wegen dir wird Pavel nicht mehr zu uns ins Haus kommen. Glaubst du etwa das gefällt mir?“ Der erste Riss in der Beziehung Bertholds zur Familie war da.

Und zum ersten Mal dachte Berthold vor dem Einschlafen darüber nach, dass er nicht immer in dieser Familie bleiben konnte. Vielleicht sollte er sich eine Arbeit in Deutschland suchen. Die Schule war bald zu Ende und wenn er auch sehr begabt war, würden Mark und Lydia ihm doch keine höhere Schulausbildung geben können. Sie hatten eigentlich geplant, ihn eine Bäckerlehre machen zu lassen. „Gegessen wird immer,“ hatte Marek gesagt, da hast du eine sichere Zukunft vor dir. Doch Berthold verspürte gar keine Lust dazu, „gestorben wird auch immer,“ dachte er, dann könnte ich auch Totengräber werden. Er wünschte sich heimlich, eines Tages studieren zu können um Arzt zu werden, wie sein Vater, an den er sich leider nicht mehr erinnern konnte. Aber die Praxis seines Vaters sah er noch genau vor sich. Das Wartezimmer, mit der langen Sitzbank, den lederbezogenen Stühlen und dem Tisch mit den Zeitungen und Kinderbilderbüchern.

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as Sprechzimmer, welches auch Behandlungszimmer war, mit der durch einen Vorhang abgeteilten Liege. Die Regale und Medikamentenschränke und all die medizinischen Geräte. Die Fenstervorhänge waren gelb gewesen und das hatte den Räumen so etwas warmes und sonniges gegeben. Seine Mutter war immer mit ihm in die Praxis gegangen, wenn er sich beim Spielen das Knie aufgeschlagen, oder sich geschnitten hatte. Dort hatte sie ihn dann fachmännisch verbunden. Und zu ihm hatte sie gesagt: „Wenn du groß bist, machst du ein gutes Abitur, dann kannst du Medizin studieren und Papas Praxis übernehmen, wenn wir uns zur Ruhe setzen. Dann gehört dies alles hier dir.“ Ach wenn sie doch noch lebte, dann wäre alles möglich, zusammen würden sie dann all ihre Träume erfüllen.

Nach etwa zwei Wochen kam Sonja ganz aufgeregt von der Arbeit nach Hause, schon im Flur rief sie: „Er hat sie gefunden, er hat sie gefunden.“ Und nachdem sie ihre Eltern begrüßt hatte: „Sie lebt in Deutschland und sucht ihn schon seit Herbst 1945.“ „Oh mein Gott,“ stöhnte Lydia, „und wir haben damals gar nicht mehr nachgefragt, weil er erzählt hat, dass sie tot ist und die erste Nachfrage von uns beim Roten Kreuz auch ergeben hat, dass es keine Anna Watzlav unter den Ausgesiedelten jener Woche gab. Was sollten wir denn anderes denken, als dass der Junge Recht hat und seine Mutter tot ist. Die arme Frau, der arme Junge!“ Lydia war völlig am Boden zerstört. Marek schaute Sonja fassungslos an: „Seine Mutter lebt also und sie hat ihn all die Jahre gesucht und nicht gefunden, weil wir nie wieder nachgefragt und seine Existenz auch nicht dem Roten Kreuz mitgeteilt haben. Oh, mein Gott! Ja, vielleicht hätten wir später noch einmal nachforschen müssen, aber das hätte ihm auch schaden können. Du weißt doch noch, wie schwierig es damals war, der Bürgermeister war doch richtig abweisend, als wir wegen Berthold bei ihm waren. Er hat uns auf später vertröstet und gesagt, dass es Heime für diese deutschen Kriegswaisen gibt. Und dass man sich ein Kind als billige Arbeitskraft ausleihen kann. Wir haben dann Angst um ihn gehabt, weil wir dachten, dass sie ihn vielleicht wirklich in ein Heim stecken, wenn wir ihn beim Bürgermeisteramt melden. Das hätte er doch gar nicht ausgehalten, so verzweifelt und verstört wie war. Weißt du noch wie erleichtert und glücklich wir waren, als wir ihn als unseren eigenen Sohn gemeldet haben und keiner sich über die fehlende Geburtsurkunde gewundert hat, sodass seine Einschulung ohne jede Schwierigkeit möglich war. Auch unsere Kinder haben dicht gehalten, uns kannte ja sowieso niemand und Berthold hat erstaunlich schnell polnisch gelernt. Alle haben ihn für unseren Sohn gehalten und er ist nie bedroht oder beleidigt worden von den anderen Kindern. Und das alles so gut gegangen ist, zeigt doch auch, dass es irgendwie Gottes Wille war, dass ich ihn dort draußen an dem Bahndamm gefunden habe, ich bin sicher, er hat mich hingeführt.

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nd dann das Gewitter, wie hätte der kleine Kerl es dort draußen denn aushalten können. Wer weiß, was ihm passiert wäre, wenn ein anderer ihn gefunden hätte. Erinnere dich doch an den schrecklichen Hass, den viele unserer Landsleute auf alle Deutschen hatten. Nein, er hat es gut bei uns gehabt, er war nicht unglücklich hier. Und jetzt ist es auch Gottes Wille, dass er wieder mit seiner Mutter vereint wird, sonst hätte er uns nicht Pavel geschickt. Du willst doch nicht etwa sagen, dass das alles Zufall ist. Dass sich unsere Sonja ausgerechnet in diesen jungen Mann verliebt, der die Sache von damals als schwere Schuld mit sich herumschleppt und nun die Gelegenheit bekommen hat, einen Teil seiner Schuld wieder gut zu machen. Nein, wir haben nichts Böses getan, Gott hat es so gewollt!“ „Ach, Marek,“ seufzte Lydia, aber sie wusste, es hatte keinen Sinn weiter mit ihm darüber zu reden. Er war von Anfang an, als er Berthold gefunden hatte, regelrecht besessen gewesen von dem Gedanken, dass Gott ihn zu dem Jungen geführt hatte.

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ass er ihn, Marek, hatte prüfen wollen. Und er hatte die Prüfung bestanden, denn sonst hätten sie niemals so viel Glück gehabt, wie in den letzten Jahren. Alles stand zum Besten, die Kinder waren gut geraten und der Hof warf gute Erträge ab. Sogar eine Kutsche und zwei Pferde hatten sie sich im letzten Jahr anschaffen können. Und als nächstes plante er, im Haus ein Badezimmer einzubauen. Und Sonja konnte er auch eine ordentliche Aussteuer mitgeben, wenn sie ihren Pavel heiraten wollte. Wenn doch nur Karol endlich eine Schwiegertochter mit nach Hause brächte, denn Lydia wurde die Arbeit in Haus und Garten allmählich zu viel. Doch das würde auch noch kommen, Karol war ein kräftiger, gut aussehender junger Mann, irgendwann würde ihm schon die Richtige begegnen. Marek vertraute auch in diesem Fall ganz auf Gott.

Berthold war mit Karol im Stall mit Reparaturarbeiten beschäftigt, als Lydia ihn ins Haus rief. „Geh nur,“ sagte Karol, „ich schaffe den Rest auch allein.“ Als Berthold die Küche betrat, standen Marek, Lydia und Sonja verlegen, unsicher und sichtlich aufgewühlt vor dem Tisch und starrten ihn nur an. „Was ist denn los, warum starrt ihr mich so an?“ Berthold spürte wie die Anspannung der anderen auf ihn übergriff und er konnte nur fragend sagen: „Meine Mutter? Lebt meine Mutter? Hat er sie gefunden?“ Als die drei nickten, aber immer noch kein Wort sagten, ging er einen Schritt auf Sonja zu, schüttelte sie und schrie „wo ist sie, sag etwas, weiß sie wo ich bin, mein Gott so sagt doch etwas!“

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amit wandte er sich hilfesuchend an Marek und Lydia. Endlich kam wieder Leben in die drei. Marek räusperte sich um etwas zu sagen, aber Lydia kam ihm zuvor: „Berthold, deine Mutter lebt in Deutschland und sie sucht dich schon seit über acht Jahren. Wir haben doch nie mehr beim Roten Kreuz nachgefragt, weil sie uns damals versichert haben, dass keine Anna Watzlav bei den Ausreisenden war und weil du uns doch gleich gesagt hattest, dass deine Mama tot ist. Erschossen. Oh mein Gott Berthold, woher hätten wir denn wissen sollen, dass das nicht stimmt. Kannst du uns verzeihen Berthold?“ Sie rang verzweifelt die Hände. Marek schüttelte nur missbilligend den Kopf, ging zu Berthold und nahm den zitternden, aufgeregten Jungen fest in die Arme. „Unser Schicksal liegt in Gottes Händen, Berthold vergiss das nie, er hat mich damals zu dir geführt und jetzt hat er Pavel geholfen, deine Mutter zu finden. Nichts geschieht ohne seinen Willen.“ Das konnte Berthold sich nicht anhören, er war erst 14 Jahre alt, nicht so abgeklärt und gläubig wie Marek. „Ach ja,“ wurde seine Stimme wieder laut und er riss sich von Marek los, „dann hat er also auch gewollt, dass euer Pavel meiner Mutter etwas Schlimmes angetan hat, dass wir von zu Hause vertrieben wurden, dass mein Vater sterben musste, dass dieser Hitler so viel Macht hatte, dass dieser schreckliche Krieg so viele Menschen ins Unglück gestürzt hat und dass ich über acht Jahre meine Mutter nicht gesehen habe!“

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r fiel auf einen Stuhl und fing an laut zu weinen. „Warum habt ihr mir nur geglaubt? Ich war doch noch so klein, warum habt ihr nicht wenigstens ein Jahr später noch einmal nachgefragt?“ Jetzt war Marek doch verunsichert, „weil wir dir eben geglaubt haben, dass deine Mutter tot ist und weil wir dich sofort gern hatten. Uns schien es nur wichtig, dir ein gutes Zuhause zu bieten. Du solltest nie das Gefühl haben, dass wir dich wieder los werden wollen, du schienst mir von Gott geschickt. Wenn wir uns falsch verhalten haben, möge Gott uns verzeihen, aber ändern können wir es nicht mehr. Ob du uns verzeihen kannst, musst du selbst entscheiden. Geh am besten erst einmal in deine Kammer hinauf und versuche das Ganze zu verstehen. Wenn du dann mit uns reden willst, wir warten hier in der Küche auf dich.“

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.12.2006