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Trotz seines Kummers und seiner Angst, kann sie Berthold zum Essen überreden. Der köstliche Duft der Wurst hilft ihr natürlich dabei. Als er gegessen hat, nimmt sie den Teller weg, setzt sich zu ihm auf die Bettkante und lässt sich von ihm den Tag der Vertreibung, der sein Leben so grausam verändert hat, in allen Einzelheiten schildern. Die ganzen Jahre lang, hat er nie darüber sprechen wollen, doch jetzt bricht es aus ihm heraus und er merkt, wie gut es ihm tut, endlich einem Menschen von all der Angst und von der Sehnsucht nach seiner Mama zu berichten. Lydia hört sich alles an und fühlt die tiefe Traurigkeit dieses dreizehnjährigen Jungen. Sagen kann sie nichts, aber sie streichelt seine Hände, bis er endlich erschöpft eingeschlafen ist.

Dann geht sie wieder nach unten, wo ihre drei Kinder inzwischen Karten spielen und Sonja immer aufgeregter zur Küchentür schaut. „Was reden die denn nur so lange?“ Sie bekommt Angst, dass sich ihr Vater womöglich nicht mit Pavel verstehen könnte. Das wäre ein Problem für sie, denn sie liebt ihren Vater sehr und will unbedingt seine Einwilligung zu ihrer Verbindung mit Pavel. Endlich, endlich geht die Küchentür auf und die beiden Männer kommen herein, zwar mit ernsten Gesichtern, aber als sie Sonjas Anspannung bemerken, lächeln beide. Marek breitet seine Arme aus und Sonja schmiegt sich glücklich an seine Brust.

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u hast eine gute Wahl getroffen,“ flüstert er in ihr Ohr, dann schiebt er die verlegene Sonja zu Pavel hin: „Pass gut auf mein Mädchen auf,“ sagt er zu Pavel „und sei mir als Schwiegersohn willkommen.“ Darauf muss natürlich angestoßen werden, Lydia stellt Weingläser auf den Tisch und Marek geht, um eine gute Flasche Wein aus dem Keller zu holen. Lydia rennt ihm schnell in den Keller nach. Sie muss wissen, was Pavel zu den Anschuldigungen Bertholds zu sagen hat. „Nun sag schon Marek, was hat Pavel zu dir gesagt, hast du ihn auch nach dem Tod von Bertholds Mutter und Großvater befragt?“ Lydia ist aufgeregt und zerrt an Mareks Ärmel, damit er sich zu ihr umdreht und ihr endlich sagt, was er mit Pavel besprochen hat. Marek lacht und nimmt seine Lydia in den Arm. „Du kannst beruhigt sein mein Täubchen, unsere Tochter bekommt einen guten Mann. Ich kann und will dir nicht alles erzählen, was in diesen schrecklichen Kriegszeiten in Pavels Leben passiert ist.

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ber es ist sicher, dass er weder die Mutter von Berthold erschossen hat, noch diesen Josef, der übrigens nicht sein Großvater ist, sondern wahrscheinlich ein Nachbar, der für Berthold wie ein Großvater war. Dieser Josef ist Pole wie wir und er und seine Frau Theresa leben mit ihrem Sohn und seiner Familie auf einem Gut in der Nähe des Elternhauses unseres Berthold. Pavel stammt aus dem Nachbardorf, in dem seine Eltern und seine Schwester leben und kennt von Kindheit an diesen Josef und seine Frau, die als Kutscher und Köchin auf dem Gut eines Deutschen gearbeitet haben, dicht an der ehemaligen deutsch-polnischen Grenze. Sie haben sich auch ein schönes Privathaus im Nachbardorf von Pavel gebaut, dort lebt jetzt die Tochter der beiden, mit Mann und Kindern. Auch der Hund, von dem Berthold erzählt hat, seine Hexie, könnte wohl noch leben.

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o Frau, jetzt lass uns wieder nach oben gehen, bevor alle verdursten. Wir können später noch überlegen, wie es weiter gehen soll. Lydia war so erleichtert über diese guten Nachrichten, dass sie ihren Marek erst einmal, umarmte und küsste, was er sich nur allzu gern gefallen ließ. Es wurde ein sehr feuchtfröhlicher Heilig Abend und es blieb auch nicht bei der einen Flasche. Als die Lichter im Haus ausgingen, war es schon weit nach Mitternacht.

Am anderen Morgen reisten Sonja und Pavel schon sehr früh ab. Pavel wollte sich zu Hause die genaue Anschrift von Josef und Theresa besorgen. Damit Marek sie Berthold geben könne und vielleicht auch Bertholds Mutter, falls er sie ausfindig machen würde. Aber er bat Marek und Lydia, absolut im Hintergrund bleiben zu dürfen. Er wollte dieser Frau nicht begegnen, der er so Grausames angetan hatte.

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nd er wollte auch Berthold nie mehr sehen. Schon deshalb war es in seinem Interesse, dass er dessen Mutter aufspüren musste, damit dieser Junge aus seiner zukünftigen Familie verschwinden würde. Niemand wird gern immer wieder an seine dunkelsten Stunden erinnert. Marek und Lydia blieben mit gemischten Gefühlen zurück. Einerseits wünschten sie Berthold natürlich, dass er seine Mutter wiederfände, andererseits, war er doch inzwischen wie ein eigenes Kind für sie. Doch es würde nicht möglich sein, den Spagat zwischen Pavel und Sonja einerseits und Berthold andererseits auszuhalten. Ihr eigenes Kind und vielleicht auch bald ihre Enkelkinder hatten ein größeres Recht auf ihre Zuneigung und Fürsorge, als Berthold, der deutsche Junge, auch wenn sie ihn in ihr Herz geschlossen hatten. Eine bessere Zukunft würde ihn sicher in Deutschland bei seiner Mutter erwarten, wenn sie denn noch lebte. Doch wenn sie noch lebte, dachte Lydia voller Schrecken, hatten sie sich dann nicht schuldig gemacht, als sie damals beschlossen hatten, Berthold bei der Stadtverwaltung als ihr eigenes Kind auszugeben, vor seiner Einschulung. Es war kein Problem gewesen, so viele Papiere waren in jener Zeit verloren gegangen, dass niemanden die fehlende Geburtsurkunde Bertholds stutzig gemacht hatte.

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nd als alles so leicht gegangen war, hatte Marek natürlich wieder behauptet, dass es ein Zeichen von Gott sei, dass sie Berthold behalten sollten. Außerdem waren sie ja überzeugt gewesen, dass seine Mutter tot war. Lydia fühlte sich gar nicht gut. Doch jetzt sollte Berthold erst einmal sein verdientes Weihnachtsfest erleben, mit gutem Essen und Geschenken, um das er gestern Abend durch Pavels Anblick gebracht worden war.

Und es wurde ein aufregendes Weihnachtsfest für Berthold. Marek und Lydia erzählten ihm, dass Opa Josef nicht erschossen worden war, sondern wahrscheinlich glücklich und zufrieden mit seiner Theresa und vielleicht auch noch mit „Hexie,“ auf dem Gut lebte, neben dem Berthold seine frühe Jugend verbracht hatte. Natürlich wünschte er sich, sofort hinzufahren, aber das hielt Marek für keine gute Idee. Da sie jetzt mit ihrem Sohn zusammenlebten, der sie schließlich gemieden hatte, als sie trotz der Vereinnahmung Polens, für die Deutschen gearbeitet und mit ihnen befreundet gewesen waren, konnte es sein, dass ihnen das plötzliche Auftauchen Bertholds, eher unangenehm wäre. Die Wunden, die dem polnischen Volk durch die Nazis beigebracht wurden, waren noch nicht verheilt. Und womöglich wurde in einer Familie, die nach dem Krieg wieder zueinander gefunden hatte, durch das Aufleben der Vergangenheit, neuer Zwist gesät. Marek erklärte Berthold dies vorsichtig und machte ihm den Vorschlag, dass er, sobald sie die Postanschrift Josefs hätten, einen Brief schreiben sollte. Und somit die Entscheidung, ob sie ihn wiedersehen wollten oder nicht, Josef und Theresa überlasse. Nach einigem Überlegen schien das Berthold auch das Vernünftigste zu sein. Aber er konnte es kaum abwarten, den Briefkontakt aufzunehmen und zu hören, wie es den Beiden und seinem Hund inzwischen ergangen war. Und was mit seinem Elternhaus geschehen war.

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arek und Lydia waren froh, dass Berthold so verständig war, aber jetzt ließ er nicht locker, er wollte genau wissen, was Pavel gesagt hatte, als sie ihn nach dem Tod von Bertholds Mutter gefragt hatten. Eigentlich hatten sie ihm ja keine falschen Hoffnungen machen wollen, aber sie konnten auch verstehen, dass es für ihn nichts Wichtigeres auf der Welt gab, als zu erfahren, ob seine geliebte Mutter noch lebte, oder nicht. Sein Herz schlug doppelt so schnell wie normal, er hatte hochrote Wangen und bestürmte die Beiden, ihm jedes kleinste Wort von Pavel zu wiederholen. Was Pavel seiner Mutter angetan hatte, sagten sie ihm natürlich nicht. Nur, dass sie noch gelebt habe, als er den Bahnhof verließ. Berthold konnte und konnte das nicht glauben, denn dann hätte er sie ja finden müssen. Vage fiel ihm die Treppe im Bahnhofsgebäude ein, die er sich nicht hinaufgetraut hatte. Er war inzwischen kein Kind mehr und konnte sich denken, dass seine Mutter nicht für die Soldaten gekocht hatte. Er ahnte, dass sie ihr irgendetwas Schlimmes angetan hatten. Und nach all seinen hektischen Überlegungen kam er doch zu dem Schluss, dass Pavel gelogen hatte, um Sonja nicht zu verlieren.

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ber das Fünkchen Hoffnung in ihm verlosch nicht, das Herz schlug weiter schneller als sonst und als Sonja nach den Weihnachtstagen wieder nach Hause kam, bestürmte er sie nach allen Einzelheiten, die sie nahe seiner alten Heimat gesehen habe. Sonja, der Pavel alles erzählt hatte, auch seine eigene Untat, konnte ihm immer wieder nur versichern, dass sie nur bei ihren zukünftigen Schwiegereltern gewesen sei. Zu dem Gut im Nachbardorf, sei Pavel allein gegangen. Er habe sich aber lediglich die Adresse aufgeschrieben. Mit den Leuten vom Gut habe er nicht reden wollen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.12.2006