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Ich weiß bis heute nicht, ob er tot, oder nur bewusstlos war. Jedenfalls habe ich ihm schnell seine Uniform ausgezogen und ihn dann aus dem Waggon gestoßen. Seine Uniform war mir zwar etwas zu weit, aber in der Länge passte sie. Am Ziel angekommen, gelang es mir ohne Schwierigkeiten, in der Dunkelheit zu verschwinden.

In einem nahen Dorf habe ich mich in einem Heuschober versteckt und bin eingeschlafen. Ein kleiner Junge hat mich dort entdeckt, als er nach seiner Katze suchte und schnell seine Mutter geholt. Die beiden standen ängstlich vor mir, als ich die Augen öffnete. Sie dachten ja, ich sei ein Deutscher. Die Mutter hatte mir das Gewehr im Schlaf abgenommen und es nun auf mich gerichtet, doch ihre Arme zitterten vor Angst. Aber stell dir mein Glück vor, Marek, ich war in das Haus eines Widerstandskämpfers gekommen! Nachdem ich mich als Pole zu erkennen gegeben hatte, war die Frau wie verwandelt, fröhlich und sehr gastfreundlich. Ich bekam ordentliches Essen und Kleidung von ihrem Mann, der mit anderen Partisanen in den Wäldern des nahen Bergzuges lebte. Sie versteckte mich drei Tage und Nächte lang, in denen ich erstmals wieder richtig schlafen und mich satt essen konnte. Dann kam in der Nacht ihr Mann und nahm mich noch vor der Morgendämmerung mit in das Versteck der Partisanengruppe, der er angehörte. So wurde aus mir ein Kämpfer der Heimatfront.

Als der Krieg endlich aus war und der Befehl kam, die Deutschen zu vertreiben, bin ich in meinen Heimatort Sosnie zurück gegangen, um meine Eltern zu sehen und den Tag der Rache mit ihnen zu feiern. Ich wurde dann einem Begleitkommando zugeteilt, dass die Deutschen aus dem Ostteil ihrer Heimat, der jetzt uns Polen zugesprochen worden war, vertreiben sollte. So bin ich von Sosnie über Mittelwalde bis hierher nach Haynau, an unsere neue Westgrenze gekommen. Zufällig erfuhr ich dann, dass der Bürgermeister junge Männer sucht, mit denen er eine Polizeistation aufbauen kann. Ich habe mich gemeldet, denn ich stand ja ohne Ausbildung oder vernünftigem Schulabschluss da. Und ich machte mir schon Gedanken, was nun aus mir werden soll. Polizist erschien mir ein Traumberuf. Der Bürgermeister hat mich angenommen und für sechs Monate nach Warschau auf die Polizeischule geschickt. Dort haben wir eine Schnell-Ausbildung in Verkehrserziehung und Verbrechensbekämpfung erhalten, und durften uns nach erfolgreicher Prüfung, Polizisten nennen. Inzwischen habe ich viele Schulungen absolviert und viele Prüfungen bestanden, so dass ich mich heute stellvertretender Polizeioberkommissar nennen und deiner Tochter etwas bieten kann.“

Marek war erschüttert über das was er gerade gehört hatte. Seine Sympathie für Pavel wuchs, aber da war immer noch die Sache mit Bertholds Mutter und Großvater. Es war ihm sichtlich unangenehm, aber er musste den jungen Mann jetzt danach fragen: „Pavel, als du den Vertriebenenzug nach hier begleitet hast, ist da vor Eurem Abzug ein alter Mann namens „Josef“ von dir erschossen worden? Und als ihr hier ankamt, hast du da eine Frau, die Mutter eines kleinen Jungen erschossen? Es fällt mir nicht leicht, dir diese Fragen zu stellen, aber ich muss es tun, denn die Frau war Bertholds Mutter und der Mann anscheinend sein Großvater.“ Pavel schloss die Augen und sah das Geschehen, von jenem Tag vor über acht Jahren, deutlich vor seinem geistigen Auge. Immer hatte er an diese Frau denken müssen, war nie die Scham über sein Verhalten los geworden. Aber seinerzeit war sein Hass und sein Wunsch nach Rache so groß gewesen, hatte ihn vollkommen beherrscht, dass er keine Kontrolle über sein Handeln gehabt hatte. Heute nach so langer Zeit, nachdem die Wunden etwas verheilt waren, schämte er sich, genauso gehandelt zu haben, wie diese Schweine, die Marla auf dem Gewissen hatten. Aber er hatte doch weder die Frau erschossen, noch Josef, der ja schließlich ein Pole und noch dazu der Vater eines verdienten Widerstandskämpfers und heutigen Regierungsmitglieds war. Aber er erinnerte sich, dass es ihm Spaß gemacht hatte, die Frau zu erschrecken, indem er ihr vormachte, dass er Josef als Verräter erschossen habe, weil er nett zu Deutschen war. Er wollte damals, dass sie Angst hatte, wenigstens einen Bruchteil der Angst, die Marla ausstehen musste. Damals auf dem Gut, als sie dem Gutsbesitzer und seiner Frau den Befehl überbracht hatten, innerhalb der nächsten Stunden ihren Besitz zu verlassen und sich auf dem Rathausplatz einzufinden, zwecks Abtransports, hatten sie beim Verlassen des Gutes vier Schüsse gehört. Als sie umgekehrt waren, um zu sehen was passiert war, fanden sie das Ehepaar und seine zwei Jagdhunde tot in der Diele des Hauses liegend. Josef war dann dort geblieben um sich um alles zu kümmern. Er wusste noch, dass der alte Mann geweint hatte und damals war ihm tatsächlich der Gedanke gekommen, dass dieser Pole ein verdammter „Deitschen-Freind“ war und es nicht verdiente, so patriotische Kinder zu haben, die um die Freiheit Polens in schwerster Zeit gekämpft hatten. Heute, mit dem nötigen Abstand sah er das alles viel milder und wusste, dass es falsch ist, über Menschen zu urteilen, ehe man nicht ihre ganze Geschichte kennt. Darum war es auch richtig und gut, dass Marek ihm all diese Fragen stellte.

Marek, ich schwöre dir bei allen Heiligen, ich habe weder die Mutter Bertholds, noch seinen angeblichen Großvater Josef erschossen. Josef ist Pole, sein Sohn ist heute in der Regierung und war damals der führende Kopf der Partisanen, zusammen mit seiner Schwester, einer mutigen Frau. Niemals ist dieser Josef der Großvater des Jungen, so viel ich weiß, waren sie nur Nachbarn. Ich muss allerdings zu meiner großen Schande eingestehen, dass ich diese Frau vergewaltigt habe, als wir mit den Deutschen aus Mittelwalde hier angekommen waren. Als Rache für Marla. Und heute schäme ich mich dafür. Aber damals konnte ich nicht anders, mein Hass war zu groß. Doch erschossen habe ich sie nicht. Als ich ging, lebte sie noch. Ich hatte vor der Abfahrt zu der Mutter gesagt, dass Josef erschossen worden sei, weil er ein Freund der Deutschen war. Ja, das war gelogen, aber ich wollte ihnen Angst machen. Glaube mir Marek, ich bin nicht stolz auf das was ich getan habe, doch ich kann es auch nicht rückgängig machen. Es ist schon so, der Krieg weckt das Böse im Menschen. Da hat niemand mehr Kontrolle über das was er tut. Doch wie kommt dieser Junge denn zu dir? Die Züge mit den Vertriebenen sind in jener Nacht doch abgefahren, ich dachte, dass alle Deutschen, die wir zum Bahnhof getrieben hatten, das Land verlassen hätten. Vielleicht lebt die Mutter des Jungen ja noch, wir sollten einmal nachforschen. Ich kann das gerne von meiner Dienststelle aus tun. Hauptsache du weißt seinen vollständigen Namen und sein Geburtsdatum.“

Marek war von Pavels Bericht erschüttert. Er musste einige Male schlucken, ehe er sprechen konnte: „Pavel, du wirst verstehen, dass es für mich keine Entschuldigung für Vergewaltigung gibt. Du hast dich nicht besser verhalten, als die Deutschen, die deine Freundin auf dem Gewissen haben. Wie konntest du nur so etwas Grauenvolles tun? Du wirst es eines Tages vor Gott verantworten müssen. Ich will dein Richter nicht sein. Doch kann ich dir meine Tochter anvertrauen?“ Dann schwieg er und auch Pavel, der mit gesenktem Kopf vor ihm saß, sagte kein Wort. Als er nach einigen Minuten den Kopf hob und zum Sprechen ansetzten wollte, schnitt ihm Marek mit einer Handbewegung das Wort ab. „Ich habe selbst den Krieg erlebt und viele menschliche Abgründe kennen gelernt, darum versuche ich zu verstehen, dass dein schreckliches Erlebnis mit Marla und der daraus entstandene blinde Hass zu dieser Untat geführt hat. Es spricht allerdings für dich, dass du es offensichtlich sehr bereust. Und die Tatsache, dass du mir gegenüber so offen und ehrlich warst, lässt mich glauben, dass ich dir Sonja anvertrauen kann und du mich nicht enttäuschen wirst.“ Er reichte Pavel seine Hand hin, die dieser dankbar ergriff: „Ich danke dir Marek, und ich versichere dir, dass ich Sonja über alles liebe und du sie mir unbesorgt anvertrauen kannst, das schwöre ich bei Gott.“

Marek erzählte Pavel nun, wie er Berthold in der Nacht des schweren Gewitters draußen am Bahndamm gefunden hatte. Und wie es ihm wie ein Fingerzeit Gottes vorgekommen war, dass er sich um dieses Kind kümmern müsse. Und Gott habe ihn ja auch dafür belohnt. Sie hätten bisher, seit Berthold bei ihnen lebe, immer nur Glück gehabt. „Vielleicht ist es ja auch Schicksal, dass du dich in meine Sonja verliebt hast und so den Weg zu uns gefunden hast. Du kannst deine Schuld zum Teil wieder gut machen, wenn du Bertholds Mutter findest. Ich wäre zwar traurig, wenn ich mich von diesem liebenswerten Jungen trennen müsste, aber ich weiß, dass er sich in all den Jahren immer nach seiner Mutter gesehnt hat. Und sollte sie noch leben, wäre es sicher Gottes Wille, sie wieder zusammen zu führen. „Ja,“ nickte er noch einmal nachdrücklich, „ich glaube, dass es das ist, was Gott von dir und mir erwartet. Hoffen wir, dass sie noch lebt und wir sie finden.“

Inzwischen ist Lydia zu Berthold in seine Schlafkammer gegangen und hat ihm Kartoffelsalat und Bratwurst mitgebracht. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.12.2006