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Er soll im Bett bleiben, Lydia wird ihm später, wenn er sich beruhigt hat, Wurst und Kartoffelsalat nach oben bringen. Und die Geschenke werden sie erst morgen austauschen, wenn Pavel wieder weg ist. Immer wieder versichern sie ihm, dass er keine Angst haben muss, sie werden nicht zulassen, dass ihm etwas geschieht.
Marek und Lydia gehen bedrückt wieder nach unten ins Wohnzimmer. Sie sind sich einig, dass sie vor dem Essen das Thema nicht anschneiden wollen. Ihren Kindern, die besorgt nach Berthold fragen, sagen sie, dass Berthold eine Magenverstimmung habe und im Bett bleiben müsse. Es ist Heiliger Abend und sie wollen ihren Kindern nicht das Fest verderben. Marek wird nach dem gemeinsamen Essen, Pavel um ein Gespräch unter vier Augen bitten. Das ist ganz unverfänglich, denn schließlich will er sich ja mit ihrer Tochter verloben. Die jungen Leute sind lustig und aufgekratzt, es werden Späße gemacht und Zukunftspläne für das junge Paar. Nur Marek und Lydia fällt es schwer, sich der lustigen Stimmung ihrer Kinder anzuschließen, zu schwer liegen ihnen die Anschuldigungen von Berthold gegen Pavel auf der Seele. Schließlich wollen sie ihre Tochter nicht einem Mann anvertrauen, der eine Frau erschossen hat. Krieg hin oder her, dafür gibt es keine Entschuldigung. Nach dem Austausch der Geschenke und dem Singen der Weihnachtslieder vor dem schön geschmückten Weihnachtsbaum mit seinen brennenden Kerzen, bittet Marek Pavel zu einem Gespräch in die Küche. Pavel findet das ganz normal, gibt seiner künftigen Braut noch ein Küsschen und folgt ihm in die Küche.

Pavel, erzähl mir aus deinem Leben,“ beginnt Marek das Gespräch. „Ich möchte alles wissen über den Mann, mit dem meine Tochter ihr Leben teilen will. Wo kommst du her? Was hat dich in diese Stadt geführt und wie lange lebst du schon hier? Was macht deine Familie? Und wie und wo hast du diesen Krieg überlebt?“ Er lehnt sich angespannt auf dem Küchenstuhl zurück und schaut Pavel in die Augen. Dieser nickt ihm mit freundlichem Lächeln zu und fängt an zu erzählen: „Zuerst sollst du wissen, Marek, dass ich deine Tochter von ganzem Herzen liebe und sicher immer gut für sie sorgen werde. Meine Familie besteht nur noch aus meiner Mutter, meinem Vater und meiner kleinen Schwester. Ich hatte zwei große Brüder, die leider beide nicht mehr leben. Den ältesten haben die Deutschen totgeprügelt, als er in den Keller unseres eigenen Hauses eingebrochen ist, um etwas Essbares für die Familie zu besorgen.

U
nser Haus war damals von den Deutschen beschlagnahmt worden und wir mussten es verlassen, nur mit dem was wir auf dem Leibe und in den Händen tragen konnten. In einer Feldscheune haben wir Unterschlupf gefunden. Aber es war kalt und wir haben gehungert. Tagsüber arbeiteten wir unter deutscher Aufsicht in dem Sägewerk, das zuvor meinem Vater gehört hatte. Wir bekamen nicht genügend zu essen, darum hat mein Bruder versucht, in den Keller unseres Hauses einzubrechen, um wenigstens ein paar Kartoffeln und einige Dosen eingemachtes Fleisch und Gemüse zu holen. Doch diese verdammten Deutschen haben ihn erwischt und dann totgeprügelt, wegen Diebstahls an deutschem Volkseigentum. Meine Eltern sind fast daran zerbrochen, nur der Hass auf diese Mörder, hat sie am Leben erhalten. Mein Vater hat immer gesagt: „Die Zeit der Rache für Euren Bruder wird kommen, dann denkt an diesen Tag!“ Mein zweiter Bruder ist in die Wälder geflüchtet und hat sich dort den Partisanen der Heimatfront angeschlossen. Und zwei Jahre später ist auch er durch eine Kugel der Deutschen gestorben. Ich selbst war erst 14 Jahre alt, als sie Polen überfallen haben. Das Gymnasium, das ich besuchte, wurde geschlossen und meine Schulkameraden und ich mussten die Heimat verlassen und in Deutschland in einer Munitionsfabrik als Kriegsgefangene arbeiten. Es war sehr hart, aber wir bekamen zu essen und das Leben im Lager war anfangs auch erträglich. Ich hatte schreckliches Heimweh und Angst, meine Familie vielleicht nie mehr wiederzusehen. Unser Vorarbeiter, ein schlimmer Nazi, sprach immer davon, dass Polen den Deutschen gehöre, und nur wer bereit sei, sich eindeutschen zu lassen, würde überleben. Ich hätte nie meine polnische Identität verleugnet und meine Freunde auch nicht. Wir alle haben nur auf den Tag der Rache an diesen Unmenschen gewartet. Die Behandlung und das Essen waren inzwischen von Monat zu Monat schlechter geworden und die Stimmung der Deutschen immer aggressiver.

In der Kantine arbeitete ein junges Mädchen, ebenfalls eine Kriegsgefangene, sie versuchte mir immer etwas mehr in meine Schüssel zu geben, oder wenigstens ein Stück Brot extra. Ihr Name war Marla und wir verliebten uns ineinander. Eines Tages gelang es mir, ihr einen Zettel zukommen zu lassen und ihr einen Ort zu nennen, wo wir uns nach Anbruch der Dunkelheit treffen konnten.

E
s war ein alter Schuppen hinter der Fabrik, in dem eine Pferdekutsche ohne Räder stand. Von diesem Tag an machte mir die Arbeit in der Fabrik und die Schikanen der Deutschen nichts mehr aus. Ich war nicht mehr allein, ich konnte mich den ganzen Vormittag auf Marla freuen, wie sie mittags an der Essensausgabe stand, mit ihrem dunkelblonden Haar und den großen grau-blauen Augen.

S
ie war so schön und wir konnten so gut miteinander reden. Auch sie hatte großes Heimweh nach ihrer Familie. So trösteten wir uns gegenseitig und konnten unsere geliebte Sprache sprechen, was wir in Gegenwart eines Deutschen niemals durften. Es war eine junge, unschuldige Liebe, wir waren beide sehr schüchtern, haben uns nur an den Händen gehalten. Nie haben wir uns geküsst oder gar unsittlich berührt, unsere Nähe genügte uns. Außerdem war die Angst vor Entdeckung sehr groß. Wir konnten auch nur am Samstag Abend wagen, uns zu treffen, denn das war der einzige Abend an dem nur etwa die Hälfte der Wachen im Lager waren. Die anderen feierten in der Stadt. So konnte ich mich unbemerkt hinaus und später wieder hinein schleichen.

Irgendwann müssen die Wachen etwas gemerkt haben und mir heimlich gefolgt sein. Ich werde diesen Abend bis zu meinem Lebensende nicht vergessen. Wenn es so etwas wie Höllenqualen gibt, dann habe ich sie an diesem Abend erlitten. Und Marla, gerade erst vierzehn Jahre alt, musste nicht nur noch viel Schrecklicheres erleiden, nein, sie hat es auch nicht überlebt. Plötzlich waren sie da, standen zu fünft um die alte Kutsche und lachten über unsere ängstlichen Gesichter. Wir waren doch fast noch Kinder. Doch das half uns nicht. Mich haben sie zuerst gepackt und grausam verprügelt. Als ich keine Abwehrreaktion mehr zeigte, haben sie mich vom Boden hochgerissen und an einen Stützpfeiler des Schuppens gebunden. Mit zwei Handscheinwerfern haben sie Marla angestrahlt und sie dann vor meinen Augen vergewaltigt. Weil Marla wie wahnsinnig vor Schmerzen schrie, hat ihr einer sein dreckiges Taschentuch in den Hals geschoben. Ich konnte nichts tun, konnte nicht einmal schreien, während der Prügel hatte ich mir die Zunge blutig gebissen und sie schwoll in meinem Mund an, dass ich nur stöhnen konnte. Aber in mir wuchs ein starkes, böses Gefühl, dass mich keinen Schmerz fühlen ließ: Hass, er erfüllte meinen ganzen Körper, mein Kopf schien zu zerspringen, weil sich der Hass in ihm ausdehnte. Und gleichzeitig weinte ich um dieses wunderbare Mädchen, das ich so sehr liebte und das niemandem etwas Böses getan hatte und jetzt, wegen seiner Zuneigung und seines Vertrauens zu mir, so Unvorstellbares erleiden musste. Die ganze Nacht war ich angebunden in diesem Schuppen. Es war dunkel und ich hörte Marlas Stöhnen, sie war schwer verletzt und ich konnte ihr nicht helfen. Ich habe sie angefleht: „Sprich mit mir, Marla, sprich mit mir.“ Doch sie hatte doch dieses dreckige Tuch im Mund, ihre Hände waren gefesselt, sie konnte gar nicht sprechen. Irgendwann in der Nacht, hörte ihr Stöhnen auf und es war furchtbar still. Erst am anderen morgen als es hell wurde, habe ich gesehen, dass sie entweder erstickt oder verblutet ist. Sie musste so elend sterben, obwohl ich bei ihr war.

Am nächsten Morgen haben mich diese Schweine losgebunden und ich musste Marla am Rande des Feldes begraben und die Spuren verwischen, nichts sollte von ihrer Untat zu sehen sein. Fast zwei Jahre habe ich in der Fabrik noch gearbeitet. Kurz nach meinem 17. Geburtstag gelang mir endlich die Flucht. Die Deutschen hatten ja im Sommer 1941 auch Russland überfallen und die meisten Züge mit Munition gingen nun in Richtung Osten. Die Munitionskisten wurden mit Lastwagen zum Bahnhof gebracht und in Güterwagen umgeladen, deren Ziel, die Ostfront war. Da die Züge meist in der Nacht fuhren, gelang es mir, unbemerkt beim Verladen der Kisten in den Waggon zu kriechen. In jedem Waggon saß ein wachhabender deutscher Soldat mit schussbereitem Gewehr, an der geöffneten Schiebetür und sicherte den Zug vor unseren Partisanen. Die Fahrt war lang und ich hatte Glück, der Deutsche schlief ein. Ich hatte zu meiner Verteidigung einen Stock mitgenommen, den habe ich ihm über den Kopf gezogen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.12.2006