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EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT

Europas Blicke richten
sich auf Deutschland

Auch wenn die Umfragen etwas anderes sagen, die Zustimmung zur Europäischen Union und zur europäischen Integration in den letzten Jahren sehr abgenommen hat, ändern diese Tatsachen nichts daran: Unsere Zukunft liegt trotz aller Probleme weiter in Europa, in dieser Union von nunmehr 27 Staaten.


Und während noch die letzten Silvesterraketen am Himmel das neue Jahr begrüßen, richten sich die Blicke Europas auf Deutschland. In der Union sind die Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft, die am 1. Januar beginnt und ein halbes Jahr dauert, hoch. Dem portugiesischen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso ist noch gut die Fußball-Weltmeisterschaft in Erinnerung - ähnliche Erfolge traut er auch Bundeskanzlerin Angela Merkel zu und beschwört den Klinsmann-Effekt, um das europäische Projekt voranzubringen.
Es wird ohne Zweifel eine schwierige deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Zum einen, weil die EU-Mitgliedsstaaten soviel Hoffnung in das nächste halbe Jahr stecken. Vor allem aber auch, weil die Ausgangslage dieser Präsidentschaft alles andere als leicht ist.
Viele Bürgerinnen und Bürger bzweifeln mittlerweile, dass das Europa der 27 in der Lage ist, auf die großen Fragen der Zukunft gültige Antworten zu finden. Das haben wir deutlich bei den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden vor Augen geführt bekommen. Eine derartige Stimmung herrscht derzeit auch in vielen anderen EU-Ländern, nicht zuletzt in diesem Land.
Merkel hat sich vorgenommen, die Vertrauenskrise in der EU zu stoppen, Europa wieder näher an die Bürger heranzurücken. Sie ist sich sehr wohl bewußt, dass es nicht ausreicht, Bezug zur Vergangenheit zu nehmen, an die Brücken zu erinnern, die zwischen Ländern gebaut wurden, die durch »Erbfeindschaften« getrennt waren. So hat Merkel das wegweisende Motto ausgegeben: »Es kommt darauf an, dieses Europa wieder neu für das 21. Jahrhundert zu begründen.« Ohne Reformen wird dies nicht möglich sein, ohne Reformen darf es keine neue Aufnahmen geben.
Große Herausforderungen warten auf die Bundesregierung. Gleich am 1. Januar stößt Slowenien zur Euro-Zone. Das dürfte noch das geringste Problem sein. Slowenien gehört zu den vorbildlichen der zehn Länder, die am 1. Mai 2004 der EU beigetreten waren. Damit dürfte der Zug der Gemeinschaftswährung in Richtung Osten jedoch erst einmal gestoppt sein. Viele neue EU-Länder in Mittel- und Osteuropa kämpfen mit überhöhter Inflation und Neuverschuldung.
Größere Probleme beschert da schon der Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum 1. Januar als 26. und 27. Mitglied der EU. Trotz der Ratifizierung der Verträge: Viele Politiker hegen weiterhin Bedenken gegen den Beitritt.
Was Beitritte darüber hinaus angeht, mahnt die Bundesregierung aber zur Zurückhaltung. »Wir dürfen uns nicht übernehmen«, heißt es in einer Erklärung des Kabinetts. In Berlin herrscht Einigkeit, dass die schon jetzt vergrößerte Union kaum steuerbar ist ohne vereinfachte Regeln, wie die Verfassung sie vorsieht. Weitere Beitritte von Balkanstaaten wie Kroatien, das seit langem heftig an die Tür pocht, sind erst möglich, wenn die Verfassung »durch« ist.
Hoffnung machen sich natürlich auch Länder wie die Ukraine, Moldawien oder Georgien, die Merkel nicht nähren wird. Natürlich müssen auch diese Länder an die EU herangeführt werden. Verstärkte »Nachbarschaftspolitik« ist der einzig gangbare Weg. Niemand will, dass an den EU-Außengrenzen ein neuer »eiserner Vorhang« errichtet wird.
Es wird zudem erwartet, dass die Bundesregierung die Verhandlungen mit der Türkei voranbringt. Die CDU-Vorsitzende Merkel setzt zwar weiter auf die »privilegierte Partnerschaft«, als Bundeskanzlerin will sie aber eine verlässliche Partnerin sein, was die Einhaltung von Verträgen angeht. Andererseits kann sie auch von der Türkei erwarten, dass das Land seinen Verpflichtungen nachkommt. Ein »Weiter so« wird es mit Merkel nicht geben. Man darf gespannt sein, wo die Verhandlungen in sechs Monaten stehen.
Die Bundesregierung hat sich immer wieder zum EU-Verfassungsvertrag als bester Grundlage für die Grundregeln der Europäischen Union bekannt. Doch von ihr wird jetzt auch erwartet, dass sie ihr möglichstes tun wird, den ins Stocken geratenen Verfassungsprozess wieder in Gang zu bringen.
Vorpreschen wird Merkel auf keinen Fall. Es ist nicht damit zu rechnen, dass es vor den Wahlen in Frankreich einen konkreten Entwurf der Bundesregierung geben wird. Außenminister Frank Walter Steinmeier hat schon deutlich gemacht, dass es mit einem Formelkompromiss nicht getan ist. »Wir brauchen eine Lösung, die Europa arbeits- und zukunftsfähig macht.« Dazu müssen sich alle bewegen, einige aber eben mehr als andere.
Angesichts der hohen Abhängigkeit von Energie-Exporten braucht Europa auch eine gemeinsame Energiepolitik, um mit den großen Energiezulieferern effektiv verhandeln zu können. Gleiches gilt im Kampf gegen den Terrorismus, das organisierte Verbrechen und die illegale Einwanderung. Ohne eine gemeinsame europäische Antwort wird es auch hier keine zufriedenstellenden Lösungen geben.
Damit sind längst nicht alle Herausforderungen genannt, doch es ist schon ein schweres Bündel, das der Bundesregierung da aufgeladen worden ist.
Zwischendurch jedoch gibt es auch einmal etwas zu feiern - da ist ein stolzer Blick zurück durchaus erlaubt. Denn trotz aller Probleme ist die europäische Einigung vor allem eine Erfolgsgeschichte. Auch wenn am 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge, der im März in Berlin gefeiert werden soll, ein Bogen in die Zukunft gespannt werden sollte, ja sogar muss. Vergessen werden sollte nicht, in der ehemals geteilten Stadt kommen 27 Mitgliedsstaaten zusammen, um an die Gründungsidee der Europäischen Union zu erinnern. Sie ist es wert, hochgehalten zu werden.
Neben den oben angeführten Schwerpunkten der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sollte es für Angela Merkel wichtig sein, die EU-Regierungen und ihre Bürger davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, sich weiter ins Zeug zu legen.
Merkel weiß um diese Herausforderung und hat sie bereits angenommen: »Es nutzt uns allen, wenn wir zusammenstehen, und es kann uns bitter schaden, wenn wir zerstritten sind.«
In sechs Monaten wird Bilanz gezogen.

Ein Beitrag von
Dirk Schröder

Artikel vom 30.12.2006