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Die getöteten Kinder

Kevin wäre jetzt
niedliche drei Jahre alt

Kevin hieß der Junge. Er wurde im Januar 2004 geboren und ungefähr zweieinhalb Jahre alt. Genau lässt sich das nicht sagen. Denn wann und woran er gestorben ist, das konnte auch nach wochenlanger Obduktion des ausgemergelten kleinen Leichnams, an dem Brüche an Armen und Beinen, Blutungen auf dem Schädel und mehr konstatiert wurden, nicht festgestellt werden.


Am 10. Oktober war er in der Wohnung seines Ziehvaters in Bremen gefunden worden. Im Kühlschrank. Der Name Kevin steht seitdem für eine erschreckende Erkenntnis. Die nämlich, dass mitten im Rechts-, Sozial- und Wohlstandsstaat Deutschland über zweieinhalb Jahre ein von Geburt an unter staatlicher Pflegschaft stehendes Kind zu Tode verwahrlost und gequält werden kann, ohne dass irgendwann irgendwer die Notbremse zieht.
Das schockte beinahe mehr noch als all die anderen Fälle von Kindesmisshandlung und -tötung, die leider Gottes auch an vielen weiteren Tagen des nun auslaufenden Jahres Schlagzeilen machten. Die toten »Blumentopf-Babys« aus einem Dorf bei Frankfurt/Oder etwa. Justin (17 Monate) aus Kaiserslautern und Nadine (2) aus Gifhorn. Der noch namenlose Säugling, der im November schwerstmisshandelt unter einem geparkten Auto in Berlin abgelegt wurde und kurz danach starb oder jener, der »mindestens sechs Monate«, so der Staatsanwalt, in einer Tiefkühltruhe in einem Dorf bei Dessau lag. Und zehn Tage vor Weihnachten schließlich noch der verdurstete kleine Leon (9 Monate) im thüringischen Sömmerda. Auch die Prozesse um Jessica (7), die im Jahr 2004 qualvoll mitten in Hamburg verhungerte oder Karolina (3), die 2004 zu Tode geprügelt in einer Krankenhaustoilette bei Memmingen gefunden wurde, hallten 2006 noch nach.
Aber irgendwie gab Kevin all diesen zu »Fällen« degradierten furchtbaren Kinderschicksalen einen Namen. Und wenn noch irgendetwas dem Tod dieses hilflosen Jungen einen Sinn geben kann so das, dass möglicherweise Konsequenzen daraus gezogen werden, die anderen Kindern in Zukunft dieses Schicksal ersparen.
Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel erinnerte beim CDU-Parteitag von Dresden Ende November an den Jungen, als es um die familienpolitischen Ansätze der Partei ging: »Wir dürfen die Augen auch nicht vor der Tatsache verschließen, dass eine immer größer werdende Zahl von Familien heute nicht mehr allein in der Lage ist, die Erziehungsverantwortung wahrzunehmen«, sagte sie, »Fälle wie das Schicksal des kleinen Kevin aus Bremen stehen dafür, fassungslos haben wir es verfolgt. Sie dürfen uns aber nicht nur für ein paar Tage erschüttern. Sie müssen uns dauerhaft aufrütteln.«
Wohl wahr: die Augen nicht verschließen. Denn in der Leidensgeschichte Kevins gab es genug Momente, die hätten aufrütteln müssen, genug Menschen, die »irgendwie« um die »prekäre« Situation der Familie wussten, genug Vorwarnungen und auch genug Gesetze, die alles hätten verhindern müssen. Doch angesichts des toten Kleinkindes konnte Bremens Regierungschef Jens Böhrnsen nur noch das Vollversagen der Sozial- und Jugendhilfe im Stadtstaat eingestehen und den sofortigen Rücktritt seiner Sozialsenatorin Karin Röpke annehmen. »Das dringend und zwingend Nötige ist nicht geschehen, das wissen wir heute«, sagte er am Tag, nachdem Kevins Leichnam gefunden worden war.
Inzwischen arbeitet ein Untersuchungsausschuss das Versagen auf. Doch schon nach einer ersten Prüfung der Vorgänge hatte Bremens Justizstaatsrat Ulrich Mäurer drei Wochen nach dem schockierenden Leichenfund Klartext gesprochen. Trotz klarer Vorgaben seien nie die Konsequenzen gezogen wurden, die Kevins Leben hätten retten können: »Es gab viele, die diese Entwicklung hätten verhindern können.«
Von Geburt an war Kevins Notlage den Sozialbehörden bekannt. Denn die betreuten schon zuvor die schwer drogensüchtige Mutter des Säuglings, die ein Jahr später unter ungeklärten Umständen starb. Und so war Kevins kleines Leben ein einziges Leiden, eine einzige Qual. Mit Drogensucht geboren, erster Entzug (gemeinsam mit der Mutter) nach drei Monaten, gehungert, gedurstet, geschlagen, vernachlässigt - und dann eben irgendwann wieder abgetreten von dieser Welt, die sich nicht für ihn interessierte.
Nach dem Tod der Mutter in einem Heim untergebracht, war Kevin, gut einjährig, schließlich doch wieder dem vermeintlichen, durchaus als gewalttätig bekannten Vater zurückgegeben worden, gegen den zu diesem Zeitpunkt sogar wegen des Todes der Mutter ermittelt wurde. Dass der 41-jährige schwer Drogensüchtige nicht einmal Kevins leiblicher Vater war, wie alle annahmen, stellte sich erst mit einer DNA-Analyse nach dem Tod des Kindes heraus. Als »sehr erbärmlich«, so Justizstaatsrat Mäurer, hätten Ärzte Kevins Zustand noch zu dessen Lebzeiten beschrieben. Und die Richterin, die das Baby unter die Vormundschaft des Jugendamtes gestellt hatte, forderte mehrfach, »dass dringend etwas geschehen« müsse.
Im Juli war Kevin letztmals lebendig gesehen worden. Sein Ziehvater hatte danach niemanden mehr in die Wohnung gelassen, um nach dem Jungen zu sehen. Als schließlich vom Amtsvormund ein Gerichtsbeschluss erwirkt wurde um mit der Polizei gewaltsam in die Wohnung zu gelangen, war Kevin längst tot. Wortlos zeigte der, den man für den Vater hielt, auf den Kühlschrank. Der Mann sitzt seitdem in Haft, das Verfahren gegen ihn wie auch gegen Mitarbeiter des Amtes für soziale Dienst läuft.
Ebenso die Diskussion darüber, wie künftig Schicksale wie Kevins verhindert werden können. Doch trägt tatsächlich - und selbst, wenn in Bremen radikal alles falsch lief - allein stets die Aufsichtsbehörde die Schuld? Mitarbeiter von Jugendämtern können von ihrer täglichen Gratwanderung unter öffentlicher Beobachtung berichten. Familie ist ein hohes und auch gesetzlich besonders geschütztes Gut. Und schnell stehen die amtlichen Fürsorger somit auch dann unter Beschuss, wenn sie ein Kind vermeintlich »zu früh« aus einem als problematisch eingeschätzten Haushalt holen. Doch wer kennt den richtigen Zeitpunkt?
Familien dürften nicht unter Generalverdacht gestellt werden, ist die zuständige Bundesministerin Ursula von der Leyen (CDU), siebenfache Mutter, gegen (noch) mehr staatliche Aufsicht. Sie ist daher auch gegen eine gesetzliche Vorschrift zur Teilnahme an den neun Vorsorgeuntersuchungen für Kinder bis zur Einschulung, will stattdessen die Freiwilligkeit mit nachhaltigen Einladungen neu organisieren. Ihre Partei beschloss in Dresden gleichwohl die Kindesuntersuchungs-Pflicht als politisches Ziel für die Zukunft. Die Anträge stammten nicht von ungefähr von den Landesverbänden Bremen (Kevin) und Saarland: In Saarbrücken läuft seit Jahren der Prozess um den kleinen Pascal (5), der vermutlich zu Tode misshandelt, dessen Leichnam aber nie gefunden wurde.
Für den Ausbau eines Frühwarnsystems sprachen sich derweil Deutscher Städte- und Landkreistag sowie Deutscher Städte- und Gemeindebund aus: »Um bestehende Konfliktlagen früher zu erkennen, überforderten Eltern schneller und wirksamer unter die Arme zu greifen sowie nötigenfalls zu intervenieren«, erklärten ihre Spitzen nach einer gemeinsamen Tagung zum Thema - auch dies eine Reaktion auf den »Fall Kevin«.
Löblich, aber: »Frühwarnsystem«? Wir erinnern uns: Kevins Leiden waren etwa so lange bekannt, wie er lebte. Was ihm fehlte waren nicht Vorschriften, sondern deren beherzte Umsetzung. Oder auch einfach ein wenig mehr menschliche Aufmerksamkeit und Mitgefühl.
Hinschauen und handeln statt Verdrängen und auf die Zuständigkeiten verweisen - das ist nicht leicht. Aber nichts anderes sind wir alle Kevin schuldig. Hätte es nur einer beizeiten getan, er wäre jetzt niedliche drei Jahre alt.

Ein Beitrag von
Ingo Steinsdörfer

Artikel vom 30.12.2006