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Wenn Mama ausflippt

Über psychisch kranke Mütter und ihre Kinder


Bielefeld (sas). Glückliche Erinerungen an ihre frühe Kindheit hat Vera Bierwirth kaum: Von klein auf hat sie lernen müssen, auf ihre Mutter Rücksicht zu nehmen. Und zwei- bis dreimal im Jahr erlebte sie, dass ihre manisch-depressive Mutter zur Therapie in die Psychiatrie kam. »Ich kam dann zu meinen Großeltern. Aber ich hatte immer Angst, einmal ins Heim zu müssen.«
Sie war eine der Teilnehmerinnen der Fachtagung »Familienbande«. Veranstaltet vom Arbeitskreis »Frauen und Psychiatrie« befasste sie sich mit der Situation psychisch kranker Mütter und ihrer Kinder in Bielefeld. »Unser Anliegen ist, die Kooperation der verschiedenen Hilfesysteme zu verbessern«, erklärt Anke Lesner vom Verein »Wildwasser«. Ein großes Problem zudem: Erwachsenenpsychiatrie und Jugendhilfe schreiten häufig erst in der akuten Krise ein. Sinnvoller wäre, so die Psychiaterin Gyöngyvér Sielaff aus Hamburg, in gesunden, stabilen Phasen Vertrauen aufzubauen.
»Mütter sollen wissen, an wen sie sich wenden können. Und sie sollen wissen, dass sie keine Angst haben müssen, dass ihre Kinder aus der Familie geholt werden«, sagt Lesner. Denn vielfach haben die Frauen - im Gros tatsächlich alleinerziehend - die Sorge, dass in ihre Familie hineinregiert wird und ihnen die Kompetenz, ein Kind zu erziehen, abgesprochen wird und mogeln sich möglichst lange alleine durch.
Dabei gibt es eine Reihe von Hilfsangeboten - je nach Schwere und Dauer der akuten Krise und je nach Alter der Kinder. Wichtig ist allemal, dass die Mütter diese Institutionen nicht als Bedrohung empfinden und das Gefühl haben, dass trotz ihrer Krankheit alles läuft. »Denn sie merken selbst, dass sie nicht immer verläßlich sind und quälen sich mit einem schlechten Gewissen«, weiß Sielaff. Wichtig, betonte als betroffene Mutter Anita Sporleder, sei deshalb auch die Selbsthilfe; Mütter sollen Mütter beraten und ein eigenes Netzwerk aufbauen.
Hilfe benötigen oft aber auch die Kinder, die mit dem Stigma einer psychisch kranken Mutter (oder, seltener, eines Vaters) leben müssen - in Deutschland schätzungsweise 500 000, in Bielefeld 1000 bis 2000. »Wir haben uns oft alleingelassen gefühlt. Es war sehr belastend«, sagt Vera Bierwirth. Und irgendwann waren die Rollen vertauscht: »Ich habe immer überlegt, wie ich mich verhalten muss, damit meine Mutter nicht ausflippt.«

Artikel vom 08.12.2006