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Aus dem Gästebuch des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim

»Wörter sind die Schuhe der
Gedanken. Damit kommt man
überall hin.«

Editorial
Was Staub
aufwirbelt
und was untergeht


Verehrte Leserinnen,
liebe Leser,

Wenn ein Volk auf unserer Erde sichtbar urgewaltig zu neuen, nie geahnten Ufern aufbricht, dann sind es weder die Amerikaner noch die immerhin 450 Millionen Alt- und Neu-Europäer noch gar Wladimir Putins von einstigen Weltmacht-Höhen empfindlich abgerutschte Russen, sondern - die Chinesen aus dem ungemein vielfältigen und geschichtsträchtigen Riesenreich der Mitte.
Da fügte es sich gut, dass schon gleich zu Beginn des Jahres 2006 sich tatsächlich konkrete Anhaltspunkte dafür mehrten, dass womöglich nicht der Portugiese Chri- stopher Kolumbus, sondern schon vor ihm, man fasst es kaum, ausgerechnet ein Chinese als erster seinen Fuß auf den bis dahin unbekannten Kontinent Neue Welt gesetzt haben könnte.
Darauf jedenfalls deutet eine zeitgenössische Landkarte des chinesischen Anwalts und Sammlers Liu Gang hin, die im vergangenen Januar entdeckt worden ist. Denn deren Urheber ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der kaiserliche Admiral Zheng He aus der legendären Ming-Dynastie, der mit seiner stolzen Flotte nachweislich bereits deutlich früher als europäische Abenteurer und Eroberer die Welt umsegelte.
Auch solche Nachrichten müssten uns eigentlich aufhorchen lassen. Schließlich könnte es sich am Ende als notwendig erweisen, die höchst aufregende Geschichte der Entdeckungen an einem wichtigen Ereignispunkt zu korrigieren, wenn nicht sogar umzuschreiben. Aber die elektronischen Wundertüten Fernsehen und Internet beherrschen eben weithin den Hauptstrom des flüchtigen Text- und Bildgeschäftes.
Als »interessanter«, sprich: pu- blikums- und einschaltquotenträchtiger, gelten nun einmal Katastrophen, Elend, Not und Pein - vom »kleinen« Einzel-Mord und Totschlag bis hin zu Kriegen, Massenvertreibungen, Epidemien und Natur- und Umwelt-Tragödien unvorstellbaren Ausmaßes.
Nicht selten hat es den fatalen Anschein, als giere die Masse Mensch geradezu danach, als fiebere sie - am besten aus gebührend sicherer Entfernung, versteht sich - gleich schon dem nächsten großen Knall, der nächsten Beinahe-Apokalypse entgegen.
Ewig junge Frage an uns selbst: Wenn »wir« aber wirklich so sind, warum nur ändert sich, ändern wir daran praktisch nichts?
Die leider ewig gleiche Antwort: Weil wir es offenbar nicht wirklich wollen, obwohl es dafür doch Anregungen, Anlässe und gute Gründe in Hülle und Fülle gibt. Das belegen anschaulich doch auch schon die Themen dieses großen, traditionellen Extra-Magazins des WESTFALEN-BLATTes zum Jahreswechsel 2006/2007.
Stets großen und häufig unverdient wohlwollenden Presse-Bahnhof finden immer wieder Veranstaltungen der sogenannten Medien-Politstars. Ein Beispiel: Vor dem BND-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages redeten Außenamtschef Frank-Walter Steinmeier und sein Vorgänger Joschka Fischer wie der sprichwörtliche Wasserfall - greifbar Neues sagten sie absolut nicht. Dennoch verklärten viele die Verschleierungskünste der beiden schelmisch-liebevoll als pfiffigen »Auftritt wortgewandter Freunde«.
PS: Apropos Freunde. Sage und schreibe 19 der 22 unserer kickenden Geldeinsacker vom Deutschland-WM-Supersommer 2006 blieben der Wahl der »Sportler des Jahres« in Baden-Baden gänzlich fern. Kein schöner Zug.

Herzlich,
Ihr




Rolf Dressler, Chefredakteur

Artikel vom 30.12.2006