01.12.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Vier alte Postkarten und ein
ganzer Korb voll Wurscht

Lesung aus den Briefen von Hermann Stenner

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Beim Prestel-Verlag feiert man die Edition der Korrespondenz des Malers Hermann Stenner als »unser schönstes Buch des Jahres«. Zu Recht. Die Vorstellung des Prachtbandes in der Kunsthalle stieß denn auch auf großes Interesse.

Ein hübscher Knalleffekt gleich zu Beginn gelang Christian Stenner, einem Enkel des Bielefelder Expressionisten: Er überraschte die Kunsthistorikerin Dr. Karin von Maur mit vier vor wenigen Tagen erst gefundenen Postkarten, die der Maler einst von seinen Ausflügen an die Lieben daheim geschrieben hatte. »Da können wir ja gleich die zweite, erweiterte Auflage des Buches ankündigen«, scherzte Götz Keitel, 2. Vorsitzendes »Freundeskreises Hermann Stenner«.
Kunsthallen-Chef Dr. Thomas Kellein begrüßte am Mittwochabend (28) fast 100 Bücherfreunde, Kunstsinnige und Mitglieder der Familie Stenner - aber bei diesem stilvollen Anlass schloss das eine das andere natürlich keineswegs aus - zu einer Lesung mit dem aus Film und Fernsehen bekannten Schauspieler Nikolaus Benda im Vortragssaal. »Das Buch kann man kaufen!« - Prof. Dr. Hermann-Josef Bunte, 1. Vorsitzender des Freundeskreises, machte launige Werbung zum Running Gag seiner einführenden Worte.
Für das Jahr 2008 kündigte Bunte das Werkverzeichnis der Stennerschen Aquarelle an (das prächtige Verzeichnis der Gemälde gibt es bereits). In Kooperation mit Stuttgart, wo der gerade 19-jährige Maler (1891-1914) mit außerordentlich reifen Arbeiten erste große Erfolge erzielte, wird die Kunsthalle eine große Ausstellung inszenieren.
Der Schauspieler Nikolaus Benda, der auf seine Rolle des unehelichen Sohnes von »Tierarzt Dr. Engel« (ZDF) heute nicht mehr so gerne angesprochen wird, vertiefte sich - stellenweise sehr zum Vergnügen des Publikums - in Stenners Korrespondenz. Aus den 220 erhaltenen Briefen las der Wahlmünchener vor allem jene mit starkem Bielefeld-Bezug, ob es nun um Anfragen zur Ausmalung der Kapelle des Senner Friedhofs ging, um bockbeinige Kirchdornberger Mäzene (die von Stenners eigenwilliger Malweise überzeugt werden mussten) oder ganz profan um die Zusendung eines Lebensmittelpakets mit westfälischer »Wurscht«.
Benda las auch aus Stenners spärlichen Briefen an Clara Bischoff, die große Liebe seines kurzen Lebens, in denen sich der humorvolle Expressionist als schwärmerischer Romantiker zu erkennen gibt. Die letzte Feldpostkarte von der Ostfront (30. November 1914) - »Im Gegenteil zu Frankreich ists kalt und schmutzig hier« - fügte dem an sich heiteren Abend eine düstere Note hinzu, auch wenn der junge Kriegsfreiwillige bis zum Tod am 4./5. Dezember optimistisch blieb.
Karin von Maur/Freundeskreis Hermann Stenner (Hg.): Der Maler Hermann Stenner im Spiegel seiner Korrespondenz. Briefe 1909-1914; Prestel-Verlag München/Berlin et al. 2006; 464 Seiten, 29,95 Euro.

Artikel vom 01.12.2006