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Eines Tages erzählt ihr Helma, dass sie abends vor dem Einschlafen oft „Familie Greif“ spielen und sich dann vor Lachen nicht halten können. Familie Greif ist eine Flüchtlingsfamilie, die hinter dem Obstgarten im ersten Stock eines Hauses wohnt. Konrad und Helma können vom Garten aus jedes Wort hören, was dort gesprochen wird. Und da der Vater der Familie ein sehr jähzorniger, kleiner Mann ist, gibt es oft Streit. Dann fliegt schon mal ein Milchtopf oder eine Blechschüssel aus dem Fenster und das Geschrei ist riesengroß. Für Helma und Konrad ist das wie ein Hörspiel, ähnlich wie das im Radio, „Familie Hesselbach,“ welches sie jeden Donnerstag Abend mit Vater und Mutter hören und gemeinsam darüber lachen können.Die schönste Stunde der ganzen Woche für die Kinder. Und so spielen Helma und Konrad die Kräche der Familie Greif vor dem Einschlafen nach und lachen dabei wie toll. Anna denkt, wie schwer es diesem Vater Greif wohl ist, dass er seiner Frau und seinen beiden Kindern nichts bieten kann, als eine kleine Zweizimmerwohnung mit geliehenen Möbeln. Wer weiß auch, was er im Krieg an Schrecklichem erlebt hat, dass er heute solche Zornanfälle bekommt. Aber so hat alles Schlechte auch etwas Gutes: Dank seiner Unbeherrschtheit können zwei kleine Kinder lachen. Etwas, das in dem Trebeisschen Trauerhaus so selten ist und das Kinder doch so nötig brauchen.

Anna muss nur wenige Monate in der kleinen Dachkammer wohnen, denn die Flüchtlingsfamilie die im ersten Stock zwei große Zimmer bewohnt, zieht nach Frankfurt, dort hat der Mann eine Arbeit gefunden. Es ist schön, wieder zwei Zimmer zu haben, denn Berthold soll auf jeden Fall ein eigenes Zimmer haben, wenn er hoffentlich bald kommt. Frau Friedrich hat Anna Mut gemacht, denn sie kann von einigen Fällen berichten, in denen es dem Roten Kreuz gelungen ist, vermisste Kinder in Kinderheimen in Polen zu finden und sie wieder zu ihren Eltern, soweit sie noch leben, oder zu Verwandten zu bringen. Also rechnet Anna jetzt jeden Tag damit, etwas von ihrem Jungen zu hören. Am Weihnachtsabend 1953 stellt sie erstmals ein kleines Bäumchen in das Wohnzimmer. Sie schneidet Halbmonde und Sterne aus Pappe aus, bestreicht sie mit einer Wasser-Mehl-Pampe und drückt sie in Salz. So hat sie einen schön glitzernden Weihnachtschmuck für den Baum. Von Frau Friedrich bekommt sie sieben Kerzenhalter geschenkt, die schon etwas rostig sind, aber das stört sie nicht. Von ihrem wenigen Geld kauft sie sieben weiße Kerzen und bastelt sich einen großen Strohstern für die Baumspitze.

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ann backt sie einen Kuchen und lädt die ganze Familie Trebeis zum Weihnachtskaffee ein. Zum ersten Mal seit fünf Jahren hat sie Gäste. Es ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl für Anna, die Menschen, die ihr so viel geholfen haben, auch einmal bewirten zu dürfen. Sie hat sogar für jeden ein Geschenk: Für Wilhelm ein Paar Socken, für Elise ein schönes Kopftuch, für Oma Handschuhe, für Elisabeth ein selbstgemachtes Brillenfutteral mit schöner Stickerei, für Konrad ein Säckchen mit Murmeln und für Helma ein selbstgenähtes Mäntelchen für ihre Puppe. Sie legt die Geschenke schön verpackt unter den Baum. Als alle ganz verlegen ihre Geschenke entgegennehmen, bleibt noch ein Päckchen unter dem Baum übrig. Es ist besonders schön eingepackt und auf dem Papier steht: „Berthold.“ Bis zu dieser Stunde hat sie immer noch gehofft, dass Gott ihr diesmal ihren Wunsch nach der Heimkehr ihres Jungen erfüllt. In dem Päckchen befinden sich die Schulhefte, die sie voll geschrieben hat, mit all ihren Erinnerungen an ihre glücklichen Jahre in der Heimat.

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ma Trebeis schenkt Anna eine dicke Wurst, von Elisabeth bekommt sie einen schönen gestrickten Schal und von Elise ein ganz neues Federbett und Kopfkissen, mit den feinen Brustfedern der eigenen Gänse gefüllt. Nach dem Austausch der Geschenke, herrscht verlegene Stille. Bis Helma fragt: „Wann singen wir denn jetzt endlich?“ Wilhelm hat eine Flasche Apfelwein und eine Flasche Apfelsaft mitgebracht und schlägt vor, erst einmal die Stimmen zu ölen. Anna spült die Tassen schnell mit Wasser aus, denn Gläser hat sie keine. Dann bekommt jeder Erwachsene ein Tässchen Wein und die beiden Kinder Apfelsaft. Alles von den Äpfeln aus dem eigenen Garten. Und dann singen sie alle Weihnachtslieder, die sie kennen. Bis Oma sagt: „Ich kann nicht mehr, mir tut der Hals schon weh.“ Aber es ist eine wundervolle Stimmung im Raum und als sich die Familie von Anna verabschiedet und eine gute Nacht wünscht, versprechen ihr alle, dass sie heute Abend ganz besonders für Bertholds Heimkehr beten werden.
Berthold lebt schon acht Jahre bei Marek und Lydia Matzke und spricht perfekt polnisch. In der Schule ist er sehr gut und auch bei der Arbeit auf dem Hof eine große Hilfe für die beiden. Karol, ihr 25-jähriger Sohn hat inzwischen seine Militärzeit abgeleistet und ist schon seit fünf Jahren wieder zu Hause. Er gibt einen guten Jungbauern ab und ist genauso groß und breitschultrig wie sein Vater. Auch sein gutmütiges Wesen, die glatten dunklen Haare und seine lustigen, braunen Augen hat er von Marek geerbt. Sonja, mit ihren 22 Jahren das zweite Kind, arbeitet schon als erste Kraft im besten Friseurladen der Stadt.

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ie will bald ihre Meisterprüfung machen und einen eigenen Salon eröffnen. Sie kommt ganz nach der Mutter, blond, mit blauen Augen und einer sehr weiblichen Figur. Die 19-jährige Eva hat eine Schneiderlehre bei einer guten Damenschneiderin abgeschlossen. Sie ist gertenschlank, trägt ihr dunkles Haar modisch kurz geschnitten und ist mit ihren auffallend großen, leuchtend blauen Augen, den ausgeprägten Wangenknochen und den vollen Lippen, eine richtige Schönheit. Sie arbeitet weiter in der Schneiderwerkstatt ihrer Lehrherrin, träumt aber davon, eines Tages eine Modeschule zu besuchen und dann ihr eigene Mode entwerfen zu können. Marek und Lydia sind zu Recht stolz auf ihre Kinder. Das Leben hat es gut mit ihnen gemeint, sie haben Glück gehabt. Insgeheim denkt Marek, dass Gott ihn dafür belohnt, weil er den kleinen Berthold bei sich aufgenommen hat. Bestimmt ist es Schicksal gewesen, dass er ihn am ersten Tag in der neuen Heimat dort am Bahndamm gefunden hat. „Gott hat uns prüfen wollen,“ denkt Marek und weil wir die Prüfung bestanden haben, hält er seine schützende Hand über uns und unseren Hof.

Berthold fühlt sich wohl in dieser Familie, obwohl er sehr genau weiß, dass er nicht wirklich dazu gehört. Er sehnt sich oft ganz heftig nach seiner Mutter, seinem Elternhaus, Oma Theresa und seinem Dackel Hexie. Aber diese Sehnsucht trägt er ganz heimlich in sich. Denn er hat erlebt, dass Lydia sich von ihm zurückzieht, wenn sie merkt, dass er nach seiner Mutter weint. Und er will doch, dass ihn alle gern haben. Denn auf keinen Fall will er noch einmal allein sein.

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r hat schreckliche Angst, eines Tages weggeschickt zu werden und ganz allein auf der Welt zu sein. Deshalb trauert er nur heimlich um seine Mama. Denn dass sie tot ist, davon ist er überzeugt. Sonst hätte sie ihn doch gesucht und auch gefunden. Im ersten Jahr in dieser Familie war es schon fast soweit gekommen, dass sie ihn weggeschickt hätten. Lydia hatte ihm die Strickjacke seiner Mutter weggenommen, um sie zu waschen. Er hatte sich wie verrückt aufgeführt in seiner Verzweiflung und wie wild nach ihr geschlagen und getreten. Da hatte sie zu ihm gesagt: „Du kannst es dir aussuchen, entweder lässt du jetzt zu, dass ich diese dreckstarrende Jacke wasche, dann kannst du bei uns bleiben. Oder ich gebe sie dir wieder, packe deine Sachen und du verlässt uns. Wo du hingehst, ist mir dann egal. Aber wenn du bei uns leben willst, musst du auch gehorchen!“ Die Angst vor dem Alleinsein war größer gewesen, als die Angst vor dem Verlust der letzten greifbaren Erinnerung an seine Mutter. Er hatte furchtbar geweint, aber Lydia doch die Jacke gereicht. Und am nächsten Tag hatte sie gewaschen und getrocknet auf seinem Kopfkissen gelegen.

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a war er zu Lydia hingelaufen, hatte sich an sie geschmiegt und sich bedankt. Von diesem Tag an, nahm ihn Lydia öfter in den Arm und versicherte ihm, dass sie ihn sehr gern hätte und dass er keine Angst haben müsse, dass sie ihn wegschicken werde. Sie sei jetzt seine Mutter und werde dafür sorgen, dass es ihm gut gehe. Also solle er ihnen keinen Kummer machen und immer brav sein. So gab er sich große Mühe, immer folgsam zu sein und keinen Ärger zu machen. Er nannte Lydia Mutter und Marek Vater, damit Nachbarn und Mitschüler in Haynau nicht merken sollten, dass er in Wirklichkeit kein Matzke war. Auch Karol, Sonja und Eva, stellten ihn überall als ihren kleinen Bruder vor. Denn sie waren schon alt genug, um zu wissen, wie gefährlich es für Berthold sein konnte, als Deutscher erkannt zu werden. Leider war der Alterunterschied zwischen ihnen zu groß, so dass die drei keine Lust hatten, mit ihm zu spielen. Und Marek und Lydia wollten vorerst nicht, dass er außerhalb des Schulunterrichts mit anderen Kindern zusammen war. Sie hatten zu große Angst, er könne sich verraten.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.12.2006