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Die Chance ist sehr gering, aber es könnte doch sein, dass irgendeiner zufällig auf seinem Weg nach Westen, den kleinen Jungen getroffen haben könnte. Oder ihn bei der Arbeit als Kriegsgefangener auf einem Hof oder Betrieb, dort gesehen hätte. Mit Anna reisen viele Frauen aus dem Dorf nach Friedland. Auch Lotte Möller, deren Mann vermisst ist. Alle haben Schilder auf langen Stöcken dabei und hoffen, etwas von ihren vermissten Männern oder Söhnen zu hören, oder sie gar auf dem Bahnhof in die Arme schließen zu können. Immer wenn so ein Wiedersehen stattfindet, schöpfen alle übrigen wieder Hoffnung, dass nächste Woche vielleicht ihr Mann oder Sohn dabei ist. Von der Sucharbeit des Roten Kreuzes, hört man immer wieder Erfolgsmeldungen, die Annas Hoffnung schüren, bald ihren Sohn bei sich zu haben und gemeinsam mit ihm einen neuen Anfang zu wagen. 1948 eröffnet ein junger Arzt im Nachbardorf eine Praxis. Anna, die schon in der Arztpraxis ihres Mannes mitgeholfen hat, bewirbt sich als Helferin und wird angenommen. Sie bekommt von dem Arzt zwei weiße Kittel gestellt, so dass sie sich wegen ihrer ärmlichen Kleidung nicht schämen muss.
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eider gibt es nicht für alle Einwohner Bezugsscheine für Schuhe, aber Annas Schuhe sind durchgelaufen. Und in ihren Holzsandalen kann sie nicht in der Praxis arbeiten. Schließlich hilft ihr Lotte, die Schwester von Wilhelm. Sie hat in der Schuhmacherwerkstatt ihres vermissten Mannes noch Lederstücke und die beiden Frauen versuchen sich nun als Schuster, indem sie auf Annas durchgelaufene Sohlen passend zugeschnittene Lederstücke doppelt aufkleben. Auf Absatz und Spitze werden halbmondförmige Eisenstücke geschlagen, damit sich die Sohlen nicht wieder so schnell ablaufen. Auf das brüchige Oberleder von Annas Schuhen kleben sie seitlich der Schnürung je ein dünnes Lederstück, dick Schuhwichse auf das Ganze und fertig sind die neuen Arbeitschuhe für die Arzthelferin Anna. Der Verdienst ist zwar nicht groß, aber nach zwei Monaten kann sie sich bei Lotte, die einen kleinen Laden neben der Küche eingerichtet hat, ein paar billige Schuhe kaufen. Was sie kann, legt sie zur Seite, für den Tag, an dem ihr Sohn wieder bei ihr ist. Manchmal zweifelt sie daran, ihn je wiederzusehen und ist dann völlig verzweifelt. Dann ist es gut eine Freundin wie Elise zu haben, die ihr wieder Mut macht und ihr hilft, aus dieser Verzweiflung heraus zu kommen. Bei ihr kann sie sich ausweinen, ohne Angst zu haben, dass sie Elise auf die Nerven geht. Denn Elise versteht sie und hat auch selbst ihre schlimmen Phasen der Trauer, in denen sie bei Anna Trost findet.

Auch bei Oma Möller, der Vertrauten von Elise, findet sie immer Verständnis und ein offenes Ohr. Auch sie weiß nicht ob ihr Sohn noch lebt, betet aber jeden Tag inbrünstig, dass er doch nach Hause kommen möge. Eines Tages bekommt Lotte die Nachricht, dass er in den letzten Kriegstagen gefallen ist. Oma Möller bricht völlig zusammen und auch Lotte ist verzweifelt und traurig, doch sie hat schon früh gelernt, ihre Gefühle nicht zur Schau zu stellen, sondern für sich zu behalten, ganz wie ihre Mutter, Oma Trebeis. Für ihren kleinen Sohn muss sie jetzt Mutter und Vater zugleich sein, denn heiraten wird sie nicht wieder, dass steht für sie fest. Ihr Mann war ihre ganz große Liebe und jetzt will sie nur für ihren Sohn, der ihm so ähnlich sieht, da sein. Für die beiden Frauen wird der Junge zur absoluten Hauptperson in ihrem Leben. Inzwischen hat die Währungsreform, in der aus den drei Westzonen bestehenden Bundesrepublik, stattgefunden und es gibt wieder fast alles zu kaufen. Es geht langsam wieder aufwärts im Land. Lotte, die nun weiß, dass sie auch in Zukunft allein für ihre kleine Familie sorgen muss, stellt einen Schustergesellen für die Werkstatt ein. In den Raum neben der Küche, den sie als Schuhladen nützt, baut sie noch ein zusätzliches Regal und lässt vom Schreiner einen Schaukasten auf den Gartenzaun montieren, in dem sie neue Schuhe ausstellt. Dieser Schaukasten ist eine Attraktion im Dorf und wird beim Sonntagsspaziergang der Niederbacher immer besichtigt. Schließlich ist er das erste und vorerst noch einzige Schaufenster im Dorf. Nebenbei bestellt sie die wenigen Äcker die sie besitzen, mit der Hilfe eines Bauern, dessen Ackerland neben dem ihren liegt. Außerdem versorgt sie eine Kuh, zwei Ziegen, zwei Schweine und die kleine Hühnerschar. Anna imponiert die Tatkraft dieser jungen Witwe und immer wenn die trüben Gedanken sie überfallen wollen, denkt sie an Lotte und reißt sich selbst wieder aus diesem Tief. Schließlich will auch sie stark sein für ihren Sohn und ihm eines Tages ein Leben ermöglichen, dass ihm alle Chancen bietet.

Am 19. Mai 1953, tobt ein anhaltendes Gewitter mit starken Wolkenbrüchen über Niederbach. Das kleine Flüsschen „Bach“ wird zum reißenden Strom. Das Wasser steigt in den Straßen über einen halben Meter hoch, und dringt in zahlreiche Keller ein. In den Häusern, die dicht am Bach stehen, überflutet es auch die Wohnräume, Ställe und Scheunen. Die Bauern haben alle Hände voll zu tun, um das Vieh in Sicherheit zu bringen. Man sieht Einrichtungsgegenstände, Holz- und Reisigstöße, sowie durch die Wucht des Wassers losgerissene Türen davonschwimmen. Das sogenannte Armenhaus, in dem Anna ein Zimmer im Erdgeschoss bewohnt, wird besonders hart von der Wucht des Wassers getroffen. Anna kann gerade noch ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpacken, als sie schon kniehoch im Wasser steht. Die Möbel sind nicht zu retten, das Wasser steigt zu schnell. Auch Otto und Else von oben und die Kriegerwitwe mit ihren Kindern von nebenan, verlassen, mit den wenigen Sachen die sie tragen können, das morsche alte Haus, denn die Balken ächzen schon bedenklich. Andere Dorfbewohner kommen zu Hilfe, denn die Strömung des Wassers ist so stark, dass es schwer ist, sich auf den Beinen zu halten. Anna rettet sich auf Trebeiss Hof, dessen Wohnhäuser und Stallungen etwas höher liegen. Nur die Keller, ein Geräteschuppen und der Schafstall werden auch überflutet. Wilhelm und Adolf ist es gerade noch gelungen, die Schafe aus dem Stall zu retten und sie in den Obstgarten zu treiben. Im Armenhaus brechen einige der unteren Gefache heraus, so dass das Wasser ungehindert durch das Erdgeschoss toben kann. Das Treppenhaus stürzt ein und das bedeutet, dass dieses Haus nicht mehr bewohnbar zu machen ist. Anna hat, genau wie ihre Mitbewohner, wieder einmal kein „Zuhause“ mehr. Doch wo soll sie hin? Alle Häuser im Ort sind überbelegt. Oma Trebeis schlägt schließlich vor, dass sie die kleine Dachkammer im Ellerhaus vorerst beziehe, bis sich etwas besseres fände. Dankbar nimmt Anna das Angebot an.

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lise freut sich, jetzt kann sie die Freundin noch öfter sehen und ihre Gedanken mit ihr teilen. Wilhelm allerdings spürt so etwas wie Eifersucht auf die Freundschaft der beiden Frauen. Doch da er schlecht mit Elises wechselnden Stimmungen umgehen kann und immer noch Angst hat, sie könnte sich etwas antun in den Phasen der Verzweiflung, die sie immer wieder überfallen, wagt er nicht, etwas gegen Annas Einzug zu sagen. Ein Eheleben führen sie ja seit dem Tod ihrer Kinder sowieso nicht mehr. Elise besteht darauf, dass Konrad und Helma bei ihr im Ehebett schlafen. Und da es Wilhelm zu eng und unruhig mit zwei kleinen Kindern im Bett ist, zieht er in das große Bett um, in dem früher Konrad und Heinrich schliefen. Elise ist es recht, ihr ist es nur wichtig, die Atemzüge ihrer Kinder zu hören und ganz dicht bei ihnen zu sein.

Anna richtet sich in dem kleinen Kämmerchen, in dem ein Bett, Schrank, Tisch und Stuhl stehen, mit ihren wenigen Habseligkeiten ein: Kleidung und Papiere, die Hefte die sie über Berthold vollgeschrieben hat und vor allem, das gestickte Namensbild mit dem gepressten Blütenzweig des „Tränenden Herzens.“ Nach allem Anderen wird man morgen früh, wenn man das ganze Ausmaß der Schäden übersehen kann, suchen. Am anderen Morgen, schickt der Lehrer die Kinder aus der Schule wieder nach Hause, sie haben für zwei Tage schulfrei, um bei den Aufräumungs- und Säuberungsarbeiten in der Gemeinde zu helfen. Die anfängliche Begeisterung der Kinder lässt schnell nach, denn es ist kein Vergnügen, in den Kellern bis zum Knöchel oder noch höher, in übel riechendem Schlamm zu stehen und ihn in Eimer zu schaufeln, die von den Erwachsenen hinausgetragen werden. In den meisten Häusern, sind die Keller so niedrig, dass ein erwachsener Mann, wenn er normal groß ist, nur gebückt stehen kann. Darum ist die Hilfe der Kinder wichtig.

Elises Kinder fassen langsam und zögernd Zutrauen zu Anna, seit sie mit auf dem Hof wohnt. Helma geht gern in die kleine Dachkammer zu Anna und lässt sich immer wieder die Geschichten von Berthold vorlesen. Sie ist ein zutrauliches und phantasievolles Kind. Konrad dagegen, ist sehr zurückhaltend und Anna bemerkt, dass er neben der Schule und der Mithilfe auf dem Hof, voll damit beschäftigt ist, seine Mutter ängstlich zu beobachten. Er merkt als erster, wenn sich ein Verzweiflungsanfall bei Elise ankündigt. Dann ist er wie ein Schatten bei ihr. Seine Angst, dass er seine Mama verliert, ist riesengroß. Anna tut der Junge leid, den sie eigentlich noch nie hat lachen hören. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.12.2006