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Als sie eines Abends in der Dämmerung wieder zum Friedhof ging, sah sie die Mutter von Heinrich und Wilma weinend am Grab stehen. Sie blieb einige Schritte von ihr entfernt stehen, sie wollte die Frau in ihrem Schmerz nicht stören. Doch das verzweifelte Schluchzen der Mutter wollte nicht aufhören und wie unter Zwang ging sie das erste Mal nach über einem Jahr auf einen Menschen zu. Und leise sagte sie: „Es tut so weh, nicht wahr? Man kann nichts mehr rückgängig machen. Und wie soll man damit leben, dass man sie allein gelassen hat?“ Dabei überfiel sie ihr eigener Schmerz wieder und auch ihr liefen Tränen über das Gesicht. Elise drehte sich zu ihr, schaute sie durch den Tränenschleier erstaunt an: „Frau Watzlav?“ Die beiden Frauen sahen sich an und fühlten eine starke Gemeinsamkeit. Elise spürte, diese Frau verstand ganz genau, was in ihr vorging, kannte die Schuldgefühle und die ausweglose Verzweiflung über die Trennung von den Kindern und das Alleinlassen in ihrer schwersten Stunde. Sie griff nach Annas Hand und dann umarmten sich die beiden Mütter, hielten sich gegenseitig fest und hatten zum ersten Mal das Gefühl, nicht so allein zu sein in ihrem Schmerz. In den folgenden Monaten wurden Anna und Elise Freundinnen, was für beide gut war. Sie stellten so viele Gemeinsamkeiten fest und konnten sich immer wieder den Erinnerungen an Elises verstorbene Kinder und Annas vermissten Sohn hingeben, ohne dass es einer von ihnen zu viel wurde.

Als Elise im Mai 1947 einen dicken Strauß „Tränendes Herz“ am Geburtstag von Heinrich, auf dessen Grab stellte, bat Anna sie, ihr doch auch einen Strauß zu geben, denn auch ihr Berthold hatte im Mai Geburtstag. Und er hatte diese Blumen geliebt, weil die Blüten wirklich aussahen wie ein Herz, aus dem eine Träne quillt. Elise hatte mehrere Stauden davon in ihrem Garten stehen und gab Anna gerne davon ab. Für Elise sollte es ein wichtiges Ritual werden, diese Blumen zum Geburtstag auf Heinrichs Grab zu stellen, sie zeigte damit, ihm, der ganzen Welt und der Schöpfung, wie sehr ihr Herz um ihn weinte. Auch Heinrich hatte diese Blume besonders geliebt und als er noch lebte, war auf seinem Gabentisch am Geburtstag immer ein dicker Strauß davon gestanden. Am Geburtstag der kleinen Wilma im März, blühten dicke Büschel Schneeglöckchen und Märzenbecher auf ihrem Grab, die Elise schon im Herbst eingepflanzt hatte.

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ie liebevolle Pflege der Gräber ihrer Kinder tat Elise gut, es war eine Möglichkeit für sie, sich aktiv mit etwas zu beschäftigen, dass nur diesen beiden galt. Etwas für sie zu tun, was ihr ja direkt nicht mehr möglich war. Und Anna, die ja nicht einmal ein Bild oder Kleidungsstück von ihrem Jungen hatte, der nur das Aufschreiben ihrer Erinnerungen geblieben war, sah in diesen Blumen etwas, womit sie den Geburtstag Bertholds begehen konnte. So stellte sie den Strauß an Bertholds Geburtstag auf den Tisch, schrieb ihm einen lieben Brief und lehnte ihn an die Vase. Und dieser Anblick tat ihr gut, ihr hatte immer etwas gefehlt, etwas, dass sie mit ihm in Verbindung bringen konnte. In den nächsten Wochen stickte sie auf ein Stück Leinen, welches sie von Elise bekam, den Namen „Berthold,“ presste einen Blütenzweig des „Tränenden Herzens“ zwischen den Seiten eines dicken Buches von Wilhelm, nähte mit zwei Stichen den gepressten Zweig über den Namen und legte es in einen Bilderrahmen hinter Glas. Den Bilderrahmen spendierte Oma Trebeis. Es war Anna, als sei mit diesem kleinen Bild ein unsichtbarer Teil von Berthold bei ihr eingezogen. In ihrem Herzen war er ja immer, aber jetzt hatte sie etwas, das sie ansehen und mit dem sie reden konnte, als sei er hier.

Durch die Freundschaft und das geteilte Leid mit Elise, wurde das Leben für Anna erträglicher. Sie ging oft zum Hof der Trebeiss und half dort, soweit sie konnte. Und Oma Trebeis gelang es, mit ihrer ruhigen, aber entschlossenen Art, Anna dazu zu bringen, sich ihren Ängsten vor Männern zu stellen und dagegen anzugehen. Es war ein langer, mühsamer Prozess, aber Anna schaffte es eines Tages, Wilhelm gerade in die Augen zu sehen und sogar zu lächeln und ihm die Hand zu geben. Außerdem kleidete sie sich jetzt normal, wie es ihrem Alter entsprach. Mit Elisabeths Hilfe hatte sie abgelegte Sachen von Frau Friedrich, passend für sich geändert. Bei einem fahrenden Händler, der mit einem Motorrad mit Beiwagen durch die Dörfer fuhr, jedes Haus besuchte und seine Waren anbot, hatte sie von der kleinen Unterstützung die sie bekam, Unterwäsche und zwei bunte Kittelschürzen gekauft und unterschied sich jetzt äußerlich nicht mehr von den anderen Frauen des Dorfes. Zumal sie auch aufgehört hatte, sich das Gesicht mit Asche zu beschmieren und ihre schönen blonden Haare unter einem dunklen Kopftuch zu verbergen. Auch die Panikreaktion, wenn ein Mann ihr auf der Straße entgegen kam, bekämpfte sie mit Oma Trebeiss Hilfe, indem sie öfter gemeinsam einen Gang durch das Dorf machten und diese sie eisern festhielt, wenn ihnen ein Mann begegnete und die Füße Annas zur anderen Straßenseite strebten. Sie kam gegen Omas Kraft nicht an und musste zitternd geradeaus, dicht an dem Mann vorbeigehen. Es kostete Anna sehr viel Kraft, aber die Therapie der alten Frau half und mit jeder Begegnung wurde Anna sicherer.

Einen herben Rückschlag erlebte sie, als die amerikanischen Besatzungssoldaten ihr erstes Herbstmanöver in Niederbach abhielten. Denn die Soldaten in Uniform, mit der
Waffe im Anschlag, um die Häuser des Dorfes schleichen zu sehen, löste eine so starke Angst in ihr aus, dass sie ihren Körper nicht mehr beherrschen konnte. Sie zitterte und wimmerte in Todesangst. Klares Denken war ihr nicht mehr möglich, sie kroch unter ihre Bettdecke und durchlitt alle seelischen und körperlichen Qualen erneut. Nach Stunden fiel sie endlich in einen unruhigen Schlaf voll böser Träume. Am anderen Morgen nahm sie all ihre Kraft zusammen, um das Haus zu verlassen und zu Elise und deren Schwiegermutter zu gehen, denn sie konnte es allein nicht mehr aushalten. Die Soldaten hatten die Übung des Häuserkampfes beendet und ihre Panzer durchpflügten jetzt die abgeernteten Felder. Als sie bei Trebeiss ankam, sahen Elise, Elisabeth und Oma sie erstaunt an. Sie hatte sich ganz unbewusst wieder mit Asche das Gesicht und die Haare beschmiert. Und das Kopftuch ganz tief in das Gesicht gezogen. Außerdem zitterte sie am ganzen Körper. Die Frauen wussten sofort, dass der Anblick der Krieg spielenden Soldaten Anna so verändert hatte.

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nd Elise machte sich Vorwürfe, dass sie am Vortag nicht daran gedacht hatte, dass Anna ja ganz allein war und der gespielte Häuserkrieg alle schrecklichen Erinnerungen in ihr wachrufen musste. Sie nahmen das Häufchen Elend in ihre Obhut, Wilhelm und sein Vater brummten etwas von „Arbeit im Stall,“ und verdrückten sich. Und die drei Frauen schafften es mit ihrer Anteilnahme, Geduld und gutem Zureden, Anna etwas zu beruhigen und ihr die schlimmste Angst zu nehmen. Als sie dann sogar einen Teller Suppe aß, atmeten sie auf. An diesem Nachmittag gelang es Anna, sich endlich anderen Menschen zu öffnen und über ihr schreckliches Erleben zu sprechen. Es war anstrengend und aufwühlend für sie und sie musste viele Pausen einlegen, aber es erleichterte sie sehr. Elise, Elisabeth und Oma Trebeis, die ja schon so etwas vermutet hatten, konnten jetzt das seltsame Benehmen von Anna gut verstehen. Und Anna, die ehrliches Mitgefühl spürte, war froh, diese Menschen getroffen zu haben und endlich über alles sprechen zu können. Der ständige, schmerzhafte Druck in ihrem Inneren wurde etwas leichter und es tat gut, zu wissen, dass diese drei Frauen mit ihr hofften und beteten, dass Berthold eines Tages wieder bei ihr sein würde.

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er Sommer 1947 ist sehr heiß und trocken und die Not der Bevölkerung erreicht ihren Höhepunkt. Täglich kommen aus den Städten hungernde Menschen, die Kleidung und Hausrat gegen Lebensmittel tauschen. Anna ist dankbar, dass es sie in dieses Dorf verschlagen hat, in dem sie, dank des kleinen Schrebergartens, Kartoffeln und Gemüse anbauen kann. Die Ernte fällt bedingt durch die extreme Trockenheit allerdings sehr gering aus. Der kleine Bach, der durch den Ort fließt, ist ausgetrocknet und es ist kein Wasser zum Gießen der Pflanzen da. Aber in der kleinen Dorfgemeinschaft unterstützt man sich noch gegenseitig. Und da Anna Wilhelm und Elise täglich bei der Feldarbeit hilft, isst sie meist am großen Tisch der Familie Trebeis mit. Es geht zwar sehr bescheiden zu, „Schmalhans ist Küchenmeister,“ pflegt Oma Trebeis immer zu sagen, aber alle werden satt. Und kein Hungernder, der an die Tür klopft, wird mit leeren Händen weggeschickt.

Anna fährt jetzt regelmäßig einmal in der Woche nach Friedland. Sie hat ein Schild gemalt, auf dem Bertholds Name und Alter steht. Das hat ihr Wilhelm an einen langen Stock genagelt und wenn in Friedland die Züge mit den heimkehrenden Kriegsgefangenen aus dem Osten ankommen, hält sie es hoch über die Köpfe der Menschen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.12.2006