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Im Traum sah sie ihren Berthold, wie er hinter einem Zug herrannte, in dem sie saß. Sie wollte runterspringen, zu ihm, doch sie konnte sich nicht bewegen, so sehr sie es auch versuchte. Von diesem Traum erwachte sie und wurde sich des ganzen Ausmaßes ihres Unglücks bewusst. Sie stand auf, kniete sich vor das Bett und betete zu Gott, dass ihrem Jungen nichts passiert war und das er ihr doch helfen möge, ihn zu finden. „Und beschütze ihn, lieber Gott, wo immer er auch ist, wenn ich ihn auch im Stich gelassen habe, bitte halte du deine Hand über ihn und mach, dass wir uns wiederfinden.“ So betete sie den Rest der Nacht und weinte die Matratze nass.

Am nächsten Tag kam tatsächlich Schorsch und brachte ihr nach und nach alles, was sie benötigte. Er war sehr neugierig und versuchte sie über ihr Leben auszufragen, und sie konnte sich schon denken, dass am nächsten Tag alles was sie sagte an den Küchenfenstern besprochen werden würde. Obwohl sie wusste, dass er keine Gefahr war, im Gegenteil, dass er ihr ja half, blieb sie immer in gehörigem Abstand von ihm. Nicht mal die Hand hatte sie ihm geben können und nur mit Mühe ihr Zittern unterdrückt. Als er merkte, dass sie nicht sehr gesprächsbereit war, ließ seine Freundlichkeit auch nach. Er stellte die Möbel auf, schloss einen kleinen Herd an den Schornstein an und verabschiedete sich dann ganz schnell. Um überall herum zu erzählen, dass diese Frau Watzlav sehr seltsam und ausgesprochen unfreundlich sei. „Vielleicht ist sie ja auch nicht ganz richtig im Kopf,“ vermutete er, sie springt direkt zurück, wenn man auf sie zutritt, sie hat mir nicht einmal die Hand gegeben, wo ich doch die ganzen Sachen zu ihr gebracht habe. Außerdem zittert sie vor Angst und ich bin doch wirklich niemand, vor dem man Angst haben muss, oder?“ Worauf ihm alle versicherten, dass niemand sich vor ihm fürchte. Im Lauf der nächsten Tage fiel immer mehr Dorfbewohnern auf, dass Anna die Straßenseite wechselte, wenn ihr ein Mann entgegen kam. Und sie immer den Kopf senkte, sodass ihr niemand ins Gesicht sehen konnte. Der einzige Mann, mit dem sie manchmal ein paar Worte wechselte, war Otto, vor ihm hatte sie keine Angst. Er strahlte selbst so viel Traurigkeit aus, dass sie sich ihm und seiner Frau irgendwie verwandt fühlte. Den fast erwachsenen Söhnen der Kriegerwitwe die nebenan wohnte, wich sie allerdings immer aus. Und deren jüngere Kinder waren es auch, die damit anfingen, „Hexe, Hexe,“ hinter ihr herzurufen. Was von den übrigen Dorfkindern schnell übernommen wurde. Sie war zwar traurig darüber, aber es machte ihr nicht wirklich etwas aus. Sie nahm alles als Strafe auf sich, je mehr sie gestraft würde, dachte sie, um so eher wäre es vorbei und Gott würde sie und Berthold wieder zusammen führen.

So vergingen der Herbst und der Winter, der besonders streng war. Anna blieb zurückgezogen, lebte in der Welt ihrer Erinnerungen, von Dienstag zu Dienstag. Denn dienstags ging sie zur Frau des Bürgermeisters, um nachzufragen, ob die Suche nach Berthold schon etwas ergeben habe. Frau Friedrichs hatte großes Mitleid mit dieser verzweifelten Mutter und Verständnis für ihr seltsames Gebaren. Wer von den Dorfbewohnern wusste schon, was diese Frau vielleicht mitgemacht hatte und wie sie von ihrem Kind getrennt worden war. Sie hatte Anna schon oft danach gefragt, aber diese war ihr immer ausgewichen, sie wollte offensichtlich nicht darüber sprechen und das musste man akzeptieren. Anna hatte in den Wintermonaten angefangen, das Leben Bertholds, von seiner Geburt an aufzuschreiben. Alles, jede Kleinigkeit, an die sie sich erinnern konnte, schrieb sie in ein Schulheft. Nichts, nichts von dieser schönen, kostbaren Zeit mit ihm, sollte verloren gehen. Sie hatte schon sechs Hefte voll geschrieben und war noch lange nicht fertig. Dieses Schreiben gab ihrem Leben einen Sinn. Wenn sie mit ihrem kleinen Haushalt fertig war, ging sie in den Wald, um Reisig und herumliegende größere Äste zu sammeln und mit nach Hause zu nehmen. Denn in diesem kalten Winter reichte die Brennholzzuteilung nicht aus, um das Zimmer warm zu halten und den Waschkessel in der Gemeinschaftswaschküche zu heizen. Manchmal begleiteten sie Else und Otto, dann konnten sie auch ganz große Äste mitnehmen, die abgebrochen waren, weil der Schnee schwer auf ihnen lag.

I
n diesen Nachkriegsjahren hatten die Borkenkäfer keine Chance, denn der Wald war immer sauber aufgeräumt, kein totes Holz lag lange herum. Alle die mit der Zuteilung auskommen mussten, waren gezwungen, im Wald nach herumliegendem Holz und Reisig zu suchen, wenn sie nicht frieren wollten. Jeden Tag waren dicke Eisblumen am Fenster und es zog durch alle Ritzen in dem alten Gemeindehaus. Aber nach einem bescheidenen Mittagessen heizte Anna einmal richtig ein, zog Tisch und Stuhl dicht an den Wärme verströmenden Herd, gönnte sich einen großen Becher Tee und setzte sich zum Schreiben hin. So konnte sie die glückliche Zeit mit ihrem Sohn noch einmal nacherleben. Das waren die schönsten Stunden des Tages.

Es kam der Frühling. Und als Anna Anfang April eines Morgens am Fenster stand, glaubte sie, ihr Herz bliebe stehen, da kam doch ihr kleiner Berthold mit einem Schulranzen den Weg herauf, auf ihr Haus zu. Ihr Herz machte gewaltige Sprünge und ihre Augen saugten sich an der kleinen Gestalt fest. Doch als er näher kam, sah sie, dass es ein fremder kleiner Junge war, der da ihrem Sohn so ähnlich sah. Sie blickte ihm nach, auf seinem Weg zur Schule, bis er an der Wegbiegung verschwunden war. Aber für diese wenigen Minuten bildete sie sich ein, dass ihr Berthold dort ginge und das machte sie glücklich. Sie konnte diesem kleinen Kerlchen schon von weitem ansehen, ob es fröhlich oder traurig, ängstlich, übermütig oder müde war. Von nun an stand sie jeden Morgen vor acht an ihrem Fenster und mittags nach zwölf, denn um nichts in der Welt wollte sie sich diese wenigen Minuten, in denen sie sich einbilden konnte, dass alles in Ordnung sei und ihr Junge bei ihr lebte und zur Schule ging, entgehen lassen. Ja sicher, anschließend war sie immer wieder besonders traurig, aber das waren ihr die Einbildungen, die für Minuten glücklich machten, wert. Inzwischen hatte sie herausgefunden, dass der Junge Heinrich hieß und der Sohn des Bauern Trebeis war. Im Verlauf des Sommers machte sie sich immer öfter Sorgen um ihn, denn er schien zusehends müder zu werden, kein übermütiges Wegkicken der Steine mehr, kein Rennen und kein Raufen mehr mit seinen Schulkameraden auf dem Schulweg. Und immer öfter kam er gar nicht, dann war sie den ganzen Tag unruhig. Irgendwie hatte sie es sich in ihrem Kopf zurechtgemacht, dass es ihrem Berthold gut gehe, wenn es diesem Junge gut gehe und schlecht, wenn es diesem schlecht gehe. In den Ferien ging sie immer öfter an dem Hof der Familie Trebeis vorbei und wenn sie ihn dort spielen sah, war es ein guter Tag, wenn nicht, ein schlechter.

Als die Sommerferien vorbei waren, stand sie pünktlich um viertel vor acht wieder am Fenster, doch Heinrich kam nicht. Auch die nächsten Tage nicht. Sie überwand ihre Scheu und fragte einen seiner Schulfreunde, die an ihrem Haus vorbei kamen, ob Heinrich Trebeis denn krank sei? „Ja,“ antwortete der und schaute sie ängstlich an, denn schließlich hatte er die Frau auch schon „Hexe“ genannt und man wusste ja nie, ob sie nicht am Ende wirklich eine war und einen verhexte. Jedenfalls brachte er nur dieses „Ja“ heraus und rannte dann so schnell er konnte davon. Von nun an betete sie nicht nur für ihren Berthold, sondern auch für den kleinen Heinrich Trebeis. Wochen später erzählte ihr Frau Friedrich, dass er so schwer an einem ansteckenden Keuchhusten erkrankt sei, dass er nach Marburg in die Universitätsklinik gebracht worden sei. Und am Dienstag darauf erfuhr sie, dass auch eine der beiden Zwillingsschwestern von Heinrich nach Marburg gekommen war. Sie litt mit den Eltern der Kinder mit und betete noch inbrünstiger um die Gesundheit der beiden. Doch alle Gebete halfen nicht. Anfang November starb der kleine Heinrich und sechs Tage später seine Schwester Wilma. Anna ging zu beiden Beerdigungen und besuchte von nun an jeden Abend, wenn es schon fast dunkel war, so dass sie sicher sein konnte niemanden anzutreffen, die Gräber der Kinder.

D
abei horchte sie ganz tief in sich hinein, um zu spüren, ob ihr Berthold noch lebte, oder wie diese beiden Kinder, die irdische Welt verlassen hatte. Doch da war keine Veränderung, noch immer fühlte sie, dass er irgendwo lebte und sich nach ihr sehnte, so wie sie nach ihm. Sie würde es spüren, wenn er tot wäre, so wie sie es ja auch bei ihrem Mann gespürt hatte. Und die seelische Verbindung zu ihrem Mann war nicht halb so stark gewesen, wie zu ihrem Sohn. Wie denn auch, schließlich waren sie erst kurz verheiratet, als der Krieg ausbrach und er, bis auf wenige Heimaturlaube, immer an der Front. Und doch hatte sie die innere Verbundenheit mit ihm gefühlt und gewusst, er denkt an mich, wie ich an ihn. Dieses Gefühl war eines Tages weg gewesen, kein Echo in ihrem Inneren, wenn sie an ihn dachte. Da hatte sie gewusst, dass sie nun mit Berthold allein war, dass ihr Mann nicht mehr wiederkommen würde. Doch Berthold lebte noch, sie musste ihn nur finden!
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.12.2006