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Edmund Stoiber

»Wer die Türkei in die EU aufnimmt, ändert den Charakter Europas.«

Leitartikel
Benedikt XVI. und die EU

Papstworte
auf türkischer
Goldwaage


Von Andreas Schnadwinkel
Einigermaßen erstaunt reagiert die Öffentlichkeit darauf, dass Benedikt XVI. während seines Türkei-Besuchs den Beitritt des muslimischen Landes zur Europäischen Union (EU) angeblich befürwortet haben soll.
Das behauptet zumindest der türkische Ministerpräsident Erdogan und verweist auf den Wortlaut im Protokoll. Dass die Delegation des Vatikans Erdogans spontane Interpretation der päpstlichen Begrüßungssätze in Ankara sofort relativiert hat, spricht indes für eine weniger weitgehende Einlassung des Pontifex - und für eine andere Deutung seiner Worte.
Denn: Wenn der Papst, wohlabgewogen gesagt, die Türkei »an der Seite der EU« wissen möchte, trifft das schon heute zu und wäre auch in Zukunft nicht falsch - unabhängig vom Ergebnis der schwierigen Beitrittsverhandlungen. Denn die Formulierung deckt vom Ist-Zustand der assoziierten EU-Mitgliedschaft bis zur privilegierten Partnerschaft jeden Status ab.
Was Benedikt XVI. genau gesagt und gemeint hat, wird man erst jetzt nach seiner Rückkehr in den Vatikan erfahren. Nach den muslimischen Reaktionen auf seine Regensburger Rede schien die Atmosphäre zu angespannt, um noch während des Aufenthalts in der Türkei etwas geradezurücken oder einzuschränken.
Jedenfalls zeigen die moderaten Worte, dass der Papst sich nicht mehr wie Joseph Kardinal Ratzinger äußern kann. In seinem Buch »Werte in Zeiten des Umbruchs« (Herder Verlag) kommt der große theologische Denker schon auf der ersten Seite zu dem Thema, das Europa grundlegend und nachhaltig verändern könnte: Den möglichen EU-Beitritt der Türkei hat Ratzinger stets abgelehnt und diese Haltung überzeugend begründet.
Erst seit 14 Monaten verhandelt die EU mit der Türkei über einen Beitritt. Obwohl die komplizierten Gespräche für »zehn bis 15 Jahre« - so die Sprachregelung von Chirac und Schröder zur Beruhigung der EU-Bevölkerung - angesetzt sind, wird bereits gedroht und gefordert. Schon das erste Verhandlungsjahr hat der EU einen Vorgeschmack auf das gegeben, was auf sie mit dem Vollmitglied Türkei zukäme.
Gewiss, wegen der geostrategischen Lage (Pipeline-Korridor für Öl und Gas, Grenzen zum Nahen und Mittleren Osten) muss Europa ein natürliches Interesse daran haben, die Türkei so eng wie möglich an den Alten Kontinent zu binden. Innenpolitisch könnte ein EU-Beitritt aber besonders in Deutschland zu gesellschaftlichen Verwerfungen führen. Das Kommunalwahlrecht für EU-Bürger, die in einem anderen EU-Staat leben, hätte zur Folge, dass Türken dann an den Kommunalwahlen teilnehmen dürften.
Es ist abzusehen, was das vor allem für Großstädte und Ballungsgebiete nicht nur in Nord- rhein-Westfalen bedeuten würde: Lokale türkische Parteien könnten als Mehrheitsbeschaffer Klientelinteressen sogar gegen die Mehrheitsgesellschaft durchsetzen.
Auch deshalb sind Vorbehalte gegen eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei allemal begründet.
Dessen eingedenk will dieser Papst sichtbar die Hand reichen. Und er tut es. Das heißt viel.

Artikel vom 02.12.2006