29.11.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Auf den Spuren der Vergangenheit

Hans-Ulrich Treichel ließ die Zuhörer an seinen Erinnerungen teilhaben

Hanne Biermann
Bielefeld (WB). Die Bielefelder, die sich vom Trubel des Weihnachtsmarkts losreißen konnten, um in der Bertelsmann-Club-Filiale die Lesung von Hans-Ulrich Treichel mitzuerleben, wurden nicht enttäuscht. Auch für den Autor selbst wurde es ein spannender Abend, stieß er doch in Bielefeld unerwartet auf Spuren seiner Vergangenheit.

»Man wird Schriftsteller, weil man sich einsam fühlt«, erzählt Hans-Ulrich Treichel. »Die Kommunikation mit anderen Menschen sucht man durch seine Bücher.«
Am Montagabend jedenfalls schien dem vielfach ausgezeichneten Autor der Kontakt zu den begeisterten Zuhörern alles andere als schwer zu fallen. Dem Publikum, etwa 50 Leser und Interessierte, das aufgrund des großen Andrangs teilweise auch mit Kinderstühlen vorlieb nehmen musste, trug Hans-Ulrich Treichel zuerst zwei eigene, sehr düster anmutende Gedichte vor. Dann las er aus seinem von dem bekannten Literaturkritiker Hellmuth Karasek hochgelobten Roman »Der Verlorene«, der in den 50er Jahren spielt, und von einem Jungen handelt, der seine ganze Kindheit über in Konkurrenz zu seinem älteren Bruder steht.
Mit diesem aber hat es eine ganz besondere Bewandtnis: Nach dem Ende des verlorenen Krieges, als Millionen Deutsche vor der Sowjetarmee, vor den Polen und Tschechen nach Westen fluteten, muss ein Elternpaar sein Baby auf dem gefährlichen Treck zurücklassen. Später dann suchte es den Kleinen mit aller Kraft, ohne ihn je zu finden. Damit verarbeitet der gebürtige Westfale auch seine eigene Kindheit, befanden sich doch auch seine Eltern immer auf der Suche nach ihrem verlorenen Sohn. Treichel, der heute Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig ist, hat versucht, sich vorzustellen, »was gewesen wäre, wenn ich bei der Suche aktiv dabei gewesen wäre«.
In seinem Elternhaus habe eine »Atmosphäre traumatischer Erdrückung« geherrscht, erzählt der heute 54-jährige, der auch in der Kurzgeschichte »Hinter dem Hühnerstall«, die er ebenfalls vortrug, mit wohltuender Ironie von einer sehr trostlosen, einsamen Kindheit berichtet. Diese Geschichte ist auch in der Anthologie «Zauber der Kindheit« zu finden, in der bekannte Autoren den Leser an ihren Kindheitserinnerungen teilhaben lassen.
Auf die Frage einer Zuhörerin, ob seine Kindheit wirklich so schrecklich gewesen sei, gesteht Hans-Ulrich Treichel, sich nur noch schwach daran erinnern zu können. In seinen Erzählungen aber arbeite er einen Teil seiner »Kindheitsamnesien« auf.

Artikel vom 29.11.2006