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CDU-Richtungsdebatte: Nur über
Leipzig geht es nach Dresden

Merkel: »Flügel geben Auftrieb, wenn sie nicht gegeneinander stehen«

Von Reinhard Brockmann
Dresden (WB). »Von Düsseldorf geht es nur über Leipzig nach Dresden«, brachte gestern der Paderborner Malermeister Friedhelm Koch die CDU-Richtungsdebatte in Anspielung auf den Leipziger Parteitag von vor drei Jahren auf Linie.

Das war beim Bundesparteitag gleichfalls Devise der Vorsitzenden, Bundeskanzlerin Angela Merkel: »Flügel geben Auftrieb, wenn sie nicht gegeneinander stehen.«
Die Chefin hatte vorgesorgt und gleich zwei Anträge des Bundesvorstands zum Arbeitsmarkt und zur sozialen Absicherung dem tausendköpfigen Delegiertenvolk im Antragspaket einbinden lassen. Der eine Antrag aus Baden-Württemberg bekräftigte alte Forderungen nach betrieblichen Bündnissen für Arbeit und Lockerung des Kündigungsschutzes.
Der zweite Antrag, der »Düsseldorfer«, war Ergebnis der von Jürgen Rüttgers und Karl-Josef Laumann der Partei seit dem Sommer aufgegebenen Debatte. Merkel formulierte das in ihrer von Stolz auf das Geleistete getragenen Rede so: »Der andere Antrag unterstützt unsere Forderung nach einer stärkeren, aber aufkommensneutralen Staffelung bei der Auszahlung des Arbeitslosengeldes I nach der Einzahlungsdauer. Das wolle die Union, weil für Ältere das Risiko einer längeren Arbeitsplatzsuche höher ist als für Jüngere. Merkel: »Für mich gehören diese beiden Anträge zusammen.«
Damit war gestern Mittag in Dresden die Kuh vom Eis, ehe der Parteitag richtig begonnen hatte. Das war Rüttgers zu wenig, die Aussprache nach der fast wie üblich sieben Minuten beklatschten Merkel-Rede geriet zur klassischen Kurs-Debatte. Mittelständler wie Friedhelm Koch oder Arbeitgebergeschäftsführer Reinhard Göhner hätten lieber die Sachfrage als die Grundsatzfrage diskutiert.
Wenn die Partei eine gerechtere ALG-I-Praxis anstrebe, weil 80 Prozent der Bevölkerung das wollten, dann rücke die CDU nicht nach links, sondern in die Mitte, sagte Rüttgers.
Der NRW-Ministerpräsident zeigte sich demonstrativ überrascht, dass ihm zum Auftakt der Aussprache ein Wort erteilt wurde, um das er angeblich gar nicht gebeten hatte. Ob großes Theater oder kleiner Regietrick, der stellvertretende CDU-Vorsitzende ließ sich das Mikrophon nicht nehmen. Seine freundlichen Ergänzungen zur Merkel-Rede klangen keck und zu weiteren Zuspitzungen herausfordernd.
Es gebe neben der guten Bilanz mit Wirtschaftswachstum, neuen Jobs und Kassensanierung noch eine andere Wirklichkeit, erinnerte Rüttgers. Die BenQ-Pleite in NRW habe ihm jedenfalls gezeigt, dass die Menschen unverändert Angst um ihren Arbeitsplatz hätten, dass Leistungsträger und selbst Manager zurückzuckten angesichts der Renditeerwartungen einer globalisierten Wirtschaft. Rüttgers: »Wir werden die Menschen nicht erreichen, wenn die einzige Antwort lautet, die Globalisierung sei unvermeidlich - und Hartz IV angeblich ohne Alternative.«
Im übrigen sei die »generelle Überholung von Hartz IV in den nächsten Wochen« gemäß Koalitionsvertrag in Berlin verabredet, machte Rüttgers weiter Druck. Er will nicht nur Beschlüsse für einen dicken Ordner mit dem Grundsatzprogramm, sondern auch taktisches Regierungshandeln in der Großen Koalition. Dazu äußerte sich Merkel bis gestern Abend nicht mit einem Wort.
Dafür blieb Rüttgers die Antwort schuldig auf die von Ole von Beust noch einmal aufgetischte Frage: »Wer soll den längeren Bezug von Arbeitslosengeld bezahlen?« Rüttgers sprach lediglich davon, niemand in der Union wolle die Sozialtransfers erhöhen. Außerdem brauchten junge Arbeitslose vier Monate, ältere Arbeitslose aber durchschnittlich 24 Monate, um wieder in Arbeit zu kommen.
Wenn etwas strittig blieb, dann die Bewertung des 2003 durchgeführten Parteitags in Leipzig. Damals war die Grundlage für das wirtschaftspolitische Konzept gelegt worden, dass im Bundestagswahlkampf 2005 die CDU um die sichere geglaubte bürgerliche Mehrheit brachte.
Merkel umschrieb die neoliberalen Anwandlungen so: »In Leipzig nahmen wir uns vor, Deutschland fair zu ändern.« Dahinter habe sich ein revolutionäres Konzept verborgen für ein einfaches und gerechtes Steuersystem sowie für eine solidarische Gesundeitsprämie. Ohne dieses Konzept wäre es nicht möglich gewesen, in der großen Koalition die entscheidende Weichenstellung vorzunehmen. Merkel: »Leipzig bleibt ein wegweisender Parteitag.«
Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff schlug in die gleiche Kerbe und entwickelte den Merkel-Gedanken weiter fort: »Leipzig muss nicht um Dresden ergänzt werden.« 2003 sei ein mutiges Signal gesetzt worden. Im übrigen sei eine gerechtere ALG-Praxis schon lange CDU-Forderung, auch seien die CDA-Sozialausschüsse nie untergepflügt worden.
Genau das hatte Laumann, Sozialminister aus NRW, behauptet. Man habe die Sorgen der um ihren Arbeitsplatz fürchtenden Menschen in der freien Wirtschaft schlicht übersehen: »Du kannst fleißig sein, Du kannst gut sein, und trotzdem wirst Du rausgeschmissen«, riet der Arbeitnehmersprecher zu mehr Realismus. Die Sorgen der Beschäftigten müsse die Union »verdammt noch mal ernst nehmen«, polterte der Münsterländer, unterstützt vom Beifall auch anderer Landesverbände.
Der in Dresden mit großer Mehrheit angenommene Antrag D15 schlägt vor, Arbeitslosengeld I zwölf Monate zu zahlen, ohne das eine Mindestversicherungszeit genannt wird. Bei 15 Jahren Vollbeschäftigung soll sich der Anspruch auf 15 Monate erhöhen. Wer mindestens 25 Jahre eingezahlt hat, soll 18 Monate Anspruch haben. In den Übergangszeitraum soll darüber hinaus bei mindestens 40 Beitragsjahren bis zu 24 Monate gezahlt werden.
Weiter sieht der Antrag vor, die Freibeträge zur Altersvorsorge zu erhöhen. Das Schonvermögen soll gegenüber heute verdreifacht werden und bis zu 45 500 Euro betragen. Im Gegenzug müssten dann die alten Regelungen der Sozialhilfe zur gegenseitigen Einstandspflicht von Eltern für ihre Kinder und umgekehrt wieder eingeführt werden.
Außerdem ist ein Kombilohn für Menschen mit »schweren Vermittlungshemmnissen« vorgesehen. Schließlich findet eine alte Forderung von Rüttgers Eingang ins Programm: Kinder werden aus Hartz IV-Berechnung herausgenommen. Stattdessen gäbe es pauschal 100 Euro Kinderzuschlag pro Monat.

Artikel vom 28.11.2006