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Angela Merkel geht nicht von einem vorzeitigen Spielabbruch aus.

Leitartikel
CDU-Parteitag

Gefeiert
und fast
gefeuert


Von Reinhard Brockmann
Angela Merkel gefeiert, Vize Jürgen Rüttgers fast gefeuert und eine notwendige Korrektur, um die CDU wieder zur Volkspartei von 40 plus anstelle von 30 minus zu machen: Das ist die vorläufige Bilanz des Dresdner Bundesparteitages.
Auch wenn es ein Parteiflügel nicht wahrhaben wollte, im benachbarten Leipzig waren 2003 die Grundlagen für das Fast-Desaster 2005 gelegt worden. Die damals von Merkel betriebene Überbetonung des Ökonomischen wurde gestern zurückgeschnitten. Das Ganze geschah vordergründig anhand des Vorschlags von Jürgen Rüttgers zur gerechteren Staffelung des Arbeitslosengeldes I. Grundsätzlich ging es aber um die Frage, wo die wahre Mitte der bürgerlichen Volkspartei CDU liegt.
Rüttgers und CDA-Chef Karl-Josef Laumann haben an der Partei dabei so kräftig gerüttelt, dass sich einige unangenehm berührt, andere in ihrem bequemen Bild vom Markt, der alles regelt, gestört fühlen mussten. Zum »Dank« gab es für Rüttgers das schlechteste Ergebnis der vier Merkel-Vize. 57,72 Prozent sind nach den Usancen eines CDU-Bundesparteitags mindestens eine Fast-Katastrophe. Der NRW-Ministerpräsident hat seine Wiederwahl nur deshalb schaffen können, weil er den größten Landesverband und damit die meisten Delegierten hinter sich weiß.
Und Merkel selbst? Kein großer Wurf, aber eine stolze Bilanz des Erreichten nach einem Jahr Kanzlerschaft war die zentrale Rede der CDU-Bundesvorsitzenden. Sie sprach zwar von der alles lösenden Formel, zu der die neue soziale Marktwirtschaft weiterentwickelt werden soll, bot aber nicht mehr als die Bündelung bekannter Einzelmaßnahmen. Dennoch stellt sie niemand ernsthaft in Frage.
Sie selbst brachte ihre Kanzlerschaft auf die Formel, dass man sich am Ende des WM-Jahres 2006 gerade in der 23. Spielminute befinde. Trotz einiger bemerkenswerter Punktgewinne werde erst am Ende abgerechnet. Ergo: Merkel geht nicht von einem vorzeitigen Spielabbruch aus, rechnet also mit vier vollen Jahren große Koalition. Solange werden ihr die Hände gebunden bleiben.
Wer übrigens eine klare Aussage Merkels zu ihrer eigenen politischen Linie erwartet hatte, wurde enttäuscht. Leipzig und Dresden sind ihr wichtig.
Im Gegensatz zu ihren Ministerpräsidenten ging sie nicht einmal so weit zu sagen, ob das eine oder das andere Korrektiv entscheidender sei. Dabei ist klar, dass die Bundeskanzlerin eine Lebenslüge plagt, seit sie Paul Kirchhof und die reine Ordnungspolitik 2005 in den Mittelpunkt einer verwirrenden Wahlkampagne rückte.
Anders ist das nicht zu erklären: Merkel scheint es unmöglich zu sagen, wo sie im gegenwärtigen Richtungsstreit selbst steht.
Vermutlich werden wir auf eine Antwort warten müssen, bis Angela Merkel eines Tages ihre Memoiren schreibt. Das dauert noch ein bisschen, aber Bundeskanzler greifen schließlich immer früher nach dem Amtsende zur Feder.

Artikel vom 28.11.2006