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Ein zynischer Moralist

Hagen Rether zieht 500 Besucher in seinen Bann

Bielefeld (LaRo). Mit messerscharfem Witz legt Hagen Rether grausame Wahrheiten der Gesellschaft frei. Seit Jahren wird der 37-jährige Kabarettist deswegen gefeiert, erhielt Preise zuhauf, 2005 den Deutschen Kleinkunstpreis. Vom Mainstream ist er dennoch meilenweit entfernt. Mehr als 500 Gäste in der Aula des Waldhof-Gymnasiums dankten es ihm am Freitagabend mit reichlich Applaus.

Rethers kabarettistisches Fadenkreuz zielt auf den Papst und die katholische Kirche, auf den Stern und den Spiegel, aufÊeine Kanzlerin und Politiker. Kurz: Voller Angriffslust - ruhig, aber brutalstmöglich - stürzt er sich auf die Macher der Gesellschaft. Politische Korrektheit ist ihm fremd, er ist zynisch und sarkastisch - und zutiefst moralisch. »Der Irak wird in drei Zonen aufgeteilt: Super, Normal, Diesel.« Hahaha. Sekunden später nur eine Zahl: »150 000 tote Zivilisten.« Stille.
Die Stichworte liefert die Medienwelt, Rether greift sie auf, wendet und zerpfückt sie, kommentiert, führt ad absurdum. Spannung entsteht mit wenig Aufwand. Messerschaft ist die Logik des hochgewachsenen Mannes mit Pferdeschwanz, der vor seinem Klavier - dekoriert mit Bananen und Baseballschläger - sitzt und plaudert. »Bielefelds Bildungselite« erliegt dem intelligenten, politischen Kabarett (fernab der Ideologielastigkeit und des Gutmenschentums älterer Genre-Größen) und macht mit. »Es gibt keine Vollbeschäftigung mehr«, sagen Hunderte. Rether: »Gemeinsam erträgt sich diese Wahrheit doch leichter.«
Klinsmann, Möllemann, Israel, Gammelfleisch - Rethers Assoziationen sind schräg, sein Timing fantastisch, seine Running Gags unverbraucht. Nach der Hälfte des mehr als dreistündigen Programms legt sich Rether eine schwarz-weiß-rote Arbeitsamt-Armbinde an. Sein türkischer Schneider hatte keine moralische Bedenken, diese anzufertigen: »So wie Spielführer, verstehe.« Rether nennt sie die stoffgewordene Stoiber-Rede. Denn Arbeitslose seien ja potentielle Rechtswähler . . . Der Nationalsozialismus als Witzelieferant. Rether, als Vierjähriger mit seinen Eltern aus Rumänien spätausgesiedelt, kippt nicht ins Peinliche.
Die mehr als 500 Gäste lauschten ihm mal so andächtig, dass eine auf den Boden fallende Nadel zu hören gewesen wäre; mal spendeten sie euphorischen Applaus. In dreineinhalb Stunden gelang dem Essener Künstler so ziemlich alles. Fast alles - bis auf die Drohung »Ich spiele euch kaputt«.

Artikel vom 27.11.2006