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Individuelle Tragödie
in kollektivem Leid

George Enescus Oper »Ödipus« am Theater Bielefeld

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). In einem zum Flüchtlingslager umfunktionierten Spielkasino gebiert eine Frau vor aller Augen einen Sohn. Sein Leben, das ist angesichts der erbärmlichen Umstände wohl deutlich, kann unter keinem glücklichen Stern stehen. Und in der Tat wird sein Schicksal in eine unausweichliche Familientragödie führen.

Mit George Enescus Oper »Ödipus« nimmt sich das Theater Bielefeld einer dankenswerten Repertoire-Rarität an. Das Werk erfordert neben einem enormen personellen Aufwand, sprich erstklassig geführtem Megachor (Einstudierung: Hagen Enke; Choreografie: Struan Leslie), einen Kerl von Bass-Bariton für die Titelpartie, die an Kraft und Ausdrucksreichtum wohl ihresgleichen sucht. Zu diesen beiden Funden, mit denen das Stadttheater in seiner vom Premierenpublikum gefeierten Inszenierung wuchert, gesellt sich ein hochengagiertes Philharmonisches Orchester, das unter GMD Peter Kuhn die klangwuchtigen Abgründe ebenso präzise und vielschichtig auszuloten versteht wie es den fein oszillierenden, unaufhörlich strömenden Schicksalsfluss spannungsvoll am Laufen hält. Allein die Musik Enescus, die hier so faszinierend tiefgründig schillert und schaurig-schön leuchtet, sollte sich der Opernfreund nicht entgehen lassen!
Operndirektor Nicolas Broadhurst hat den Stoff einer gegenwartsbezogenen Prüfung unterworfen und von allem Antikisierenden gelöst. Dass kriegerische Auseinandersetzungen wie nichts Vergleichbares tragische Schicksale kreieren, machen sich Broadhurst und sein Ausstattungsteam (Timo Dentler, Okarina Peter) »zunutze«. Der osteuropäische Charme, mit dem das weitläufige Kasino detail- und liebevoll ausgestattet wurde, erinnert an Kriegsschauplätze auf dem Balkan. Ironie des Schicksals: Der Ort, an dem einst spielerisch das Glück auf die Probe gestellt wurde, mutiert zum Schauplatz schicksalhaften, kollektiven Leids. Pars pro toto vollzieht sich an Ödipus eine Tragödie von vielen, die unschuldig schuldig wurden. Dafür findet die Inszenierung eindringliche, nachvollziehbare, bisweilen auch amüsante Bilder. Da alles vorherbestimmt ist, ist alles von Anfang an da. Broadhurst ringt dem Zuschauer indes einige gedanklichen Zickzacksprünge ab, wenn er Ödipus zum Geburtshelfer seines eigenen Ichs und Schicksals werden lässt.
Gleichwohl ist seine Ödipus-Zeichnung von bezwingender Intensität und emotionaler Wirkkraft. Dies nicht zuletzt aufgrund der ausgezeichneten Besetzung. Angefangen bei Alexander Vassiliev, der als Ödipus in seiner stimmlich wie darstellerisch facettenreichen Ausdeutung anrührt und erschüttert, und vollendet im Chor, der als heimlicher Hauptdarsteller so einheitlich wie differenziert agiert. Als brillante Mitspieler reüssieren Monte Jaffe (Tiresias), Michael Bachtadze (Kreon), Simeon Esper (Hirte), Michael Tews (Hohepriester), Meik Schwalm (Phorbas), Florian Mock (Theseus), Lassi Partanen (Laios), Kaja Plessing (Iokaste), Sonja Borowski-Tudor (Sphinx), Lisa Fornhammer (Antigone) und Gerda Maria Sanders (Merope).

Artikel vom 27.11.2006