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Amoktraining: Reingehen und handeln

Elf Streifenbeamte der Autobahnpolizei Herford bereiten sich auf den Ernstfall vor

Von Christian Althoff
Bielefeld (WB). Zwei Tage nach dem Amoklauf von Emsdetten haben elf Beamte der Autobahnpolizei Herford gestern ein Amoktraining unter realistischen Bedingungen absolviert. »Der Termin stand seit Wochen fest, aber nach den Ereignissen vom Montag habe ich die Schulung noch ernster genommen«, gibt Polizeikommissar Maik Wippersteg (26) zu.

Als Trainingsort dient ein früheres Unteroffizierscasino der Briten in Bielefeld, das eine Hauptschule darstellen soll. Als die Streifenbeamten Maik Wippersteg und Axel Grabowski (41) vor dem Gebäude eintreffen, hören sie bereits Schüsse und panische Hilfeschreie - vom Tonband. Zweieinhalb Tage theoretische Schulung haben die Polizisten hinter sich, jetzt wird es ernst.
»Nach dem Amoklauf von Erfurt mit 16 Toten hat die NRW-Polizei ihr Konzept geändert«, erklärt Einsatztrainer Udo Krüger (45), Vizeleiter der Fortbildungsstelle beim Polizeipräsidium Bielefeld. Früher hätten Streifenbeamte den Tatort abgeriegelt und auf Spezialeinheiten gewartet, heute müssten sie, wie die Polizisten in Emsdetten, »sofort rein und agieren« - damit dem Amokläufer weniger Zeit zum Töten bleibt. Die meisten Streifenpolizisten haben das Training bereits absolviert, die Beamten von der Autobahn gehören zu den letzten.
Maik Wippersteg und sein Partner kennen nur die Informationen, die der Schulhausmeister über 110 gemeldet hat. Ein schwarzgekleideter Mann sei in die Schule gestürmt, kurz darauf seien Schüsse gefallen. Die Polizisten ziehen sich Schutzwesten über und laufen dicht an der Hauswand auf den Eingang zu. Nur die leuchtend blauen Farbkugelpistolen in ihren Händen lassen erkennen, dass es nur eine Übung ist.
Schreie und Schüsse kommen aus dem ersten Stock. Die Beamten arbeiten sich langsam die 20 Treppenstufen hoch, die Waffen im Anschlag. »Rechts herum!«, entscheidet Axel Grabowski, als sie oben angekommen sind. Der ältere Beamte geht vor, Wippersteg folgt ihm rückwärts - in der rechten Hand die Pistole, die linke Hand an der Schutzweste des Kollegen, der ihn führt. Meter für Meter bewegen sich die beiden durch den langen Korridor mit seinen 19 Türen, kontrollieren Raum für Raum und stoßen auf eine reglose Frau - offenbar ein verletztes Opfer des Amokläufers.
»Polizisten haben ein Helfersyndrom«, lächelt Trainer Udo Krüger, der auch an diesem Tag wieder erlebt, dass sich einige Beamte um die Frau kümmern. »Menschlich verständlich, aber falsch, denn unser Ziel ist es, den Amokläufer schnellstmöglich zu fassen, um weitere Morde zu verhindern«, erklärt der Experte.
Bei diesem Übungsdurchlauf ist es Maik Wippersteg, der den Täter stellt. Eben noch folgte der Beamte rückwärts seinem Kollegen, jetzt steht er plötzlich in erster Reihe - denn der Täter ist hinter den Männern aus einem Raum getreten. Er feuert, doch der Polizist ist schneller: Zwei grüne Kleckse am Oberkörper des Amokläufers zeigen, wo die Farbkugeln geplatzt sind. Sekunden später ist der Mann überwältigt.
»Das war Stress pur. Mein Puls war auf 130«, sagt Axel Grabowski später mit hochrotem Kopf. Maik Wippersteg nickt und sagt, die ständigen Hilfeschreie seien eine zusätzliche Belastung gewesen. Auch Polizeikommissar Ingo Wierczock (39) zündet sich nach dem Training erst einmal eine Zigarette an. »Ich bin 22 Jahre Polizist und habe noch nie schießen müssen. Gut, dass es dieses Training gibt. So hat man eine ungefähre Vorstellung davon, was einen im Ernstfall erwartet.«
Kommissarin Juliane Seils (22), heute die einzige Frau beim Amoktraining, hat ihre Lektion ebenfalls gelernt: Ihre Pistole versagte im entscheidenden Moment, und eine Kugel des Amokläufers erwischte sie an der Hand. »Mein Kollege und ich haben uns sofort in einen Raum gerettet.« Einsatztrainer Ralf Walpurgis, der mit jeder Streifenwagenbesatzung das Vorgehen diskutiert und analysiert, ist zufrieden: »Improvisieren gehört eben auch dazu.«

Artikel vom 23.11.2006