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Gerda, ich bin es, Anna Watzlav.“ „Ja, um Gottes Willen, wie siehst du denn aus, Anna? Ich hätte dich nie erkannt. Kommt herein, kommt herein,“ erst jetzt bemerkte sie, dass Anna allein war. „Hast du Berthold nicht mitgebracht?“ Anna starrte sie fassungslos an: „Er ist nicht bei dir, du hast ihn also doch allein gelassen, ich wollte es nicht glauben, du hast ihn nicht mitgenommen?“ Ihre Stimme ging in Schreien über: „Du hast meinen kleinen Jungen bei diesen Unmenschen zurückgelassen? Hast du das?“ Und dabei schlug sie wie von Sinnen auf Gerda ein, die nichts erwidern konnte, zu groß war der Schock und das Entsetzen. Sie ließ die Schläge der kleineren Anna über sich ergehen, zog diese aber in die Wohnung und schloss die Tür, damit die anderen Bewohner des Hauses nicht aufmerksam würden. Dann nahm sie schuldbewusst und traurig die Schläge ihrer Freundin hin. Anna konnte nicht aufhören mit Schreien und Schlagen, der Schmerz und die Enttäuschung waren zu groß. Sie hatte sich gefreut, hier ihren kleinen Jungen wieder in die Arme schließen zu können und musste nun erkennen, dass er ganz allein gelassen worden war, zuerst von ihr und dann von Gerda.

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ie fühlte eine Woge der Verzweiflung über sich zusammenschlagen und nur das Schreien und die Schläge auf die bewegungslos da stehende Gerda, verschafften ihr etwas Erleichterung. So schrie und schlug sie bis zur Erschöpfung und bis ihr Schreien in Schluchzen überging. Gerda, der die Schläge gar nichts ausgemacht hatten, wohl aber die Verzweiflung Annas und der Gedanke an den armen Berthold, liefen die Tränen über das Gesicht und sie nahm Anna fest in ihre Arme und führte sie zu einem Stuhl. Sie stellte Anna einen Becher Wasser hin, den diese schnell austrank und dann flüsterte: „Erzähl mir alles, ich will ganz genau wissen was passiert ist, nachdem ich weg war.“ Gerda versuchte sich genau zu erinnern und Anna nichts zu verschweigen. Die Angst Bertholds, als seine Mama mit den Soldaten gegangen war, wie sie ihn beruhigt hatte. Und dann die plötzliche Hektik, als der Güterzug gekommen war und sie in die Waggons einsteigen mussten. Es war schon dunkel gewesen, Scheinwerfer hatten die offenen Türen der Waggons angeleuchtet.

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ie sie mit Gewehrschüssen angetrieben worden waren, schnell aufzusteigen. Berthold sei direkt vor dem Waggon noch neben ihr gewesen. Sie hätte ihre beiden Kinder hochgehoben, den helfenden Händen von oben entgegen. Gerade, als sie Berthold hatte hochnehmen wollen, war er weggerannt und sie hatte noch gehört wie er rief: „Tante Gerda, sie haben fertig gegessen, Mama kommt.“ Der Rest sei in dem allgemeinen Lärm untergegangen. Sie habe bis zur Schließung der Türen, Annas und Bertholds Namen gerufen, in der Hoffnung, dass sie beide es noch schaffen würden, in diesen Waggon zu kommen. Aber dann wären die Türen zugeschoben und abgeschlossen worden und der Zug sei losgefahren. „Glaube mir Anna, ich hatte keine Chance, wäre ich vom Zug weggelaufen, hinter Berthold her, hätten sie mich erschossen. Die Scheinwerfer erleuchteten nur den oberen Teil des Bahndammes, mit dem Einstieg der Waggons. Berthold ist so klein, er war mit zwei Schritten in der Dunkelheit verschwunden. Ich war überzeugt, dass er dich hat kommen sehen und zu dir gerannt ist, jedenfalls habe ich es gehofft. Was glaubst du, wie entsetzt ich war, als wir im Westen ausgestiegen sind und ich dich und ihn nirgends gefunden habe. In den ersten zwei Wochen, die ich im Lager Friedland verbracht habe, bin ich zu jedem Zug der ankam gerannt, immer in der Hoffnung, dass ihr angekommen seid.“ Sie schaute traurig und betroffen vor sich hin. Nach einer Weile fuhr sie fort: „Meine Cousine und ihre Familie sind übrigens schon 1943 bei einem Bombenangriff auf Kassel umgekommen. So habe ich von der Militärregierung über die Wohnraumbeschaffungsstelle für Heimatvertriebene diese Adresse zugewiesen bekommen. Und jetzt bin ich mit meinen Kindern hier. Und glaube mir, ich gäbe alles darum, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, um Berthold davon abzuhalten, wegzulaufen, weil er sich eingebildet hat, dich zu sehen. Und ihn mit in diesen Waggon zu nehmen. Was kann ich jetzt nur tun? Wie kann ich dir helfen?“ Anna, die während Gerdas Bericht aufgehört hatte zu weinen, sah sie unendlich traurig an und sagte: „Mir kann keiner helfen, auch du nicht. Ich muss Berthold suchen und finden, vorher werde ich keine Ruhe und keinen Frieden haben und auch kein Leben.

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ch kann mir jetzt vorstellen, wie alles abgelaufen ist, aber versteh bitte, dass ich so lange keinen Kontakt mit dir ertragen kann, solange ich Berthold nicht gefunden habe. Leb wohl, Gerda,“ damit drehte sie sich um und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus kamen ihr Gerdas Kinder entgegen, aber sie sah sie nicht wirklich und die Kinder beachteten die fremde alte Frau nicht.

Den Weg zurück zum Bahnhof und die Fahrt nach Friedland erlebte Anna wie in Trance. Der Schmerz ließ keine klaren Gedanken zu, sie murmelte wie ein Gebet immer wieder vor sich hin: „Ich muss Berthold finden, ich muss Berthold finden.“ Dabei wich sie weiterhin unbewusst jedem Mann aus der ihr entgegen kam und suchte sich im Zug einen Platz zwischen zwei Frauen. Sie musste jetzt die alte Frau nicht mehr vortäuschen, sie war in der letzten Stunde um Jahre gealtert. Dieser Schicksalsschlag wog so schwer, dass ihre Schultern nachgaben, ihre Schritte schwer und mühsam waren und ihre Augen traurig und unendlich müde wirkten.

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n Friedland angekommen, besprach sie mit einer Mitarbeiterin des Roten Kreuzes, welche Möglichkeiten es gäbe, nach Berthold zu suchen. In den Osten zurück durfte sie nicht mehr. Also musste sie sich ganz auf die Suchtätigkeit des Roten Kreuzes verlassen. Wichtig war, dass sie einen festen Wohnsitz bekam und damit bei dem Roten Kreuz als Mutter des vermissten Kindes Berthold Watzlav registriert wurde. Das Rote Kreuz arbeitete länderübergreifend und sobald die Strukturen wieder aufgebaut sein würden, und Berthold in einem, vom RK erfassten Kinderheim gemeldet war, würde er auch gefunden und zu seiner Mutter gebracht. Sie müsse allerdings auch damit rechnen, dass er bei Privatleuten lebe, dann dauere die Suche natürlich länger und es war fraglich, ob man ihn dann je finden würde. Doch daran solle sie jetzt nicht denken, sondern daran glauben, dass ihr Sohn bald gefunden würde. Und dazu müsse sie zuerst eine feste Wohnadresse haben. Die Mitarbeiterin wollte sich schnellstens darum kümmern und würde ihr spätestens am nächsten Tag ihre neue Wohnanschrift und das Reisegeld dafür aushändigen.

Und richtig, am nächsten Morgen bekam sie, wie versprochen, die Anschrift, ein paar Reichsmark und die Bahnroute in ihre neue Heimat von einer Mitarbeiterin der Wohnraumbeschaffungsbehörde überreicht. In zwei Stunden Zugfahrt sollte sie die Bahnstation Raumrode erreichen. Dann würde sie noch etwa fünf bis sechs Kilometer zu Fuß gehen müssen, bis in das kleine Dorf Niederbach, welches ihre Heimat in nächster Zukunft sein würde. Dort müsste sie sich auf dem Bürgermeisteramt melden. Mit ihrem kleinen Köfferchen und dem Spazierstock machte sich Anna auf den Weg zum Bahnhof, wo sie schon kurze Zeit später in den Zug nach Raumrode einsteigen konnte. Ganz in ihre unglücklichen Gedanken eingesponnen, verlief die Zugfahrt ohne dass Anna einen Blick auf die Mitreisenden oder die vorbeiziehende Landschaft warf.

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n Raumrode angekommen, stieg sie aus, fragte vor dem Bahnhof eine Frau nach dem Weg nach Niederbach und marschierte los. Die verhältnismäßig breite Schotterstraße war von Obstbäumen gesäumt und führte an Feldern und Wiesen vorbei, durch ein kleines Dörfchen und über eine Anhöhe, von der man schon die ersten Häuser und den Kirchturm von Niederbach sehen konnte. Der Himmel war bedeckt, aber es regnete Gott sei Dank nicht. Überall sah man Bauern auf den Feldern bei der Erntearbeit.

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ie meisten mit Ochsenwagen. Nur die größeren Bauern hatten Arbeitspferde. Anna war nicht allein auf der Straße, hin und wieder wurde sie von Menschen mit Rucksäcken oder Koffern überholt, oder es kamen ihr welche entgegen. Überwiegend waren das Städter, die versuchten einige ihrer noch geretteten Habseligkeiten bei den Bauern gegen Lebensmittel einzutauschen, denn der Hunger in den Städten war groß. Manche waren Kaufleute, die das was sie noch an Waren hatten, als sogenannte fliegende Händler in den Dörfern zu verkaufen suchten. Anna wechselte ganz automatisch die Straßenseite, wenn ihr jemand entgegenkam, sie stützte sich beim Gehen auf ihren Stock, hielt den Kopf gesenkt und erwiderte keinen Gruß.

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uch ein Bauer, der mit seinem Ochsengespann in Richtung Niederbach fuhr, und dem die alte Frau mit dem Stock und dem Koffer leid tat und der ihr deshalb anbot, vorn auf dem Wagen mitzufahren, bekam weder eine Antwort von ihr, noch ließ sie ihr Gesicht sehen. Nachdem er sie mehrere Mal angesprochen hatte, sie aber nicht einmal den Kopf hob, gab er auf und fuhr weiter. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.12.2006