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Sie hatte ihren Mann so lange nicht gesehen, dass es ihr nicht gelingen wollte, sein Gesicht vor sich zu sehen. Aber die Schmerzen, die ihr diese hasserfüllten Männer zugefügt hatten, die konnte sie immer noch spüren, die Todesangst und den Ekel noch fühlen. Sie schlang die Arme um ihren Körper, schloss die Augen, versuchte ganz ruhig und tief durchzuatmen und an Berthold zu denken, seinen Geruch, den sie so liebte, nachzuempfinden, damit das Schreckliche endlich aus ihrem Bewusstsein verschwinden würde.

Als die Ärztin in die Küche kam, fand sie Anna immer noch zitternd, mit geschlossenen Augen am Tisch lehnend. Sie setzte erst einmal Wasser für den Kamillentee auf, denn Anna war dazu nicht in der Lage gewesen. Dann drückte sie die immer noch Zitternde auf einen Stuhl und nahm ihr gegenüber Platz. „Also Anna, du hast ein traumatisches Erlebnis hinter dir, dass hat sich fest in dein Unterbewusstsein eingeprägt und es wird sicher lange dauern, bis du deine Angst vor Männern in den Griff bekommst und womöglich eines Tages sogar verlierst. Vielleicht hilft es dir, wenn du dir sagst, dass es ein Mann war, ein russischer Oberst, der dir das Leben gerettet hat. Doch jetzt musst du in erster Linie daran denken, dass du deinen Jungen findest. Und dazu musst du da hinaus gehen, deine Angst beherrschen lernen, um ihn zu finden und ihn zu einem guten Mann zu erziehen, vor dem sich nie eine Frau fürchten muss. Und ich hoffe für ihn, dass er nie einen Krieg erleben, und sehen muss, was er aus Menschen machen kann. Und jetzt zur Kleiderfrage, ich kann dir die Kleider einer alten Frau besorgen. Sie ist hier im Krankenhaus gestorben und ihre Sachen haben wir erst einmal in die Abstellkammer gelegt. Du musst nur alles waschen, das kannst du hier in der Wäscherei des Krankenhauses tun, dann hast du erst einmal eine komplette Ausstattung. Die Größe müsste auch stimmen. Bist du damit einverstanden?“ Natürlich war Anna damit einverstanden. Sie wusch die Sachen, trocknete sie in der Sonne und bügelte alles. Dann blieb sie noch eine Nacht im Krankenhaus und am nächsten Morgen verwandelte sie sich in eine unscheinbare, ältere Frau. Sie trug einen langen dunklen Rock, eine dunkel geblümte, hochgeschlossene Bluse und ein schwarzes Kopftuch, welches sie tief in ihr Gesicht zog. Doch zufrieden war sie noch nicht, wenn das Kopftuch verrutschte, sah man ihr leuchtend blondes Haar. Eine der beiden Schwestern kam auf die Idee, Annas Haar mit Asche einzureiben. Und danach sahen ihre Haare so struppig, grau und unansehnlich aus, dass sie zufrieden war. Noch ein paar Linien mit Asche ins Gesicht und die Verwandlung war perfekt. Allerdings fing Anna schon jetzt an zu schwitzen, denn die Kleidung war für die Hitze im August nicht geeignet.

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och so und nicht anders wollte sie es haben, hätte sie sich bei ihrem Aufbruch von zu Hause nicht so leicht und gedankenlos angezogen, wäre ihr vielleicht dieses schreckliche Erleben erspart geblieben und sie hätte ihren kleinen Jungen nicht allein lassen müssen. Sie fühlte sich schuldig und schmutzig, und so wollte sie auch aussehen, bis sie ihren Berthold wiedergefunden hätte. Sie verabschiedete sich von der Ärztin und den beiden Schwestern, schrieb sich ihre Adresse auf und versprach zu schreiben, wenn sie ihren Jungen wiedergefunden und eine neue Bleibe gefunden hätte.

Am Bahnhof herrschte großes Treiben, es kamen täglich Züge mit Vertriebenen aus den Ostgebieten an und mussten weitergeleitet werden. Als sie eine Fahrkarte kaufen wollte, winkte die Frau hinter dem Schalter ab: „Woher kommen sie?“ Als Anna den Namen ihres Heimatortes nannte, wurde sie so wehmütig, dass ihre Stimme zitterte. Die Frau sah diese ältere Frau, mit dem etwas schmutzigen Gesicht mitleidig an. „Sie brauchen keine Fahrkarte,“ sagte sie, „wir bringen alle Heimatvertriebenen aus ihrer Region nach Friedland, dort werden sie dann registriert und weitergeleitet. Vielleicht können sie ja von dort aus nach Kassel kommen, aber ich weiß nicht, ob die Zugverbindungen nach Kassel schon wieder möglich sind. Der Bahnhof ist bei den Bombenangriffen auf die Henschel-Werke auch zerstört worden. Aber in Friedland wird man ihnen auf jeden Fall weiterhelfen. Gehen sie jetzt zu Gleis 3, dort fährt in einer Stunde der nächste Zug über Cottbus, Leipzig und Halle nach Friedland ab.“ Anna bedankte sich freundlich und wollte schon gehen, da sah sie im Hintergrund des Schalterraumes einen hohen Korb stehen, in dem ein Schirm und zwei Spazierstöcke standen. Sie wandte sich noch einmal an die freundliche Frau und fragte: „Hätten sie wohl einen der Spazierstöcke für mich übrig, meine Hüfte und mein Bein schmerzen doch sehr beim Gehen.“ „Aber natürlich, die sind hier von Reisenden liegen gelassen worden und wir stellen sie dann in den Korb, für den Fall, dass jemand einen Stock, oder Schirm braucht, wie jetzt in ihrem Fall.“ Sie musste dieser Frau ja nicht sagen, dass sie in Wirklichkeit, alles, was von Reisenden vergessen wurde, abends mit nach Hause nahm und ihrer Schwester gab, die einen kleinen Laden führte und die Sachen dann dort verkaufte. Ein kleiner Zusatzverdienst, den man in diesen schweren Zeiten gut gebrauchen konnte. Der Schirm war sowieso kaputt, aber man konnte ihn noch reparieren. Anna bedankte sich lächelnd, nahm den Stock und ging, auf den Stock gestützt, zu Gleis 3.

In Friedland angekommen, wurden sie in eine große Halle gebracht, die zum Lager umfunktioniert war, registriert und dann auf Regionalzüge verteilt, jeder bekam den Namen des Heimatortes in die Papiere geschrieben, die ihnen von Mitarbeitern des Roten Kreuzes in Zusammenarbeit mit den amerikanischen Besatzern, ausgestellt wurden. Anna gab auch Gerdas Namen und den Namen ihres Sohnes an, mit der Bitte, ihr doch deren Aufenthaltsort mitzuteilen. Man versprach ihr, die Listen durchzusehen und ihr am nächsten Tag Bescheid zu geben, wo ihr Sohn sich aufhalte. Es würde im Erfolgsfall auch dafür gesorgt, dass er hierher nach Friedland zu seiner Mutter gebracht würde.

Nach ihren schrecklichen Erlebnissen mit den Polen, war sie von der Freundlichkeit der Amerikaner überrascht. Doch schließlich war Amerika ja auch nicht von den Deutschen überfallen und besetzt worden. Anna wurde ein Feldbett zugewiesen, dort ließ sie sich mit ihrem kleinen Köfferchen nieder und studierte die neuen Papiere, mit denen sie sich ausweisen konnte, bis einmal wieder richtige Ausweise ausgestellt werden konnten. Das würde wohl noch etwas dauern, bis die Verbindungen der verschiedenen Einwohnermeldeämter und Standesämter im Osten und Westen wieder funktionierten. Schließlich waren alle deutschen Behörden von den Alliierten geschlossen, und durch so genannte Militärregierungen in den Kreisstädten ersetzt worden. Von diesen erhielten die dann wieder tätigen Gemeindeverwaltungen ihre Anweisungen. Der Schulbetrieb war eingestellt, da ja der überwiegende Teil der Lehrer in der Partei gewesen war, um überhaupt unterrichten zu dürfen im „Tausendjährigen Reich,“ und jetzt in Gefangenschaft oder gefallen war. Wenigstens war seit kurzem der Postbetrieb wieder aufgenommen worden.

Am nächsten Tag erfuhr sie, dass ihr Berthold auf keiner Liste registriert war. Gerda und ihre beiden Kinder waren erfasst, aber Berthold war offenbar nicht bei ihnen gewesen. Das konnte doch gar nicht sein, da musste ein Irrtum vorliegen, Gerda hätte Berthold nie allein zurückgelassen. Oder hatte ihm dieser hasserfüllte junge Soldat etwa auch etwas angetan? Anna war verzweifelt, sie musste wissen, was passiert war und das konnte ihr nur Gerda sagen. Sie bat um Gerdas Adresse, löste eine Fahrkarte nach Wilhelmshöhe, dort wohnte Gerda jetzt, und fuhr mit dem Zug am nächsten Morgen los.

Es war Mittag, als sie in Wilhelmshöhe ankam, denn der Zug hielt an jedem kleinen Bahnhof. Dann machte sie sich auf die Suche nach Gerda. Immer wenn ihr ein Mann entgegen kam, wechselte sie die Straßenseite, sie tat das ganz unbewusst, als sei ihr Körper von ihrem Verstand losgelöst und bewege sich unabhängig von ihrem Denken. Ihr Verstand sagte ihr, dass ihre Maskerade lächerlich war, denn hier war sie in Sicherheit, hier hatte sie wirklich nichts zu befürchten. Aber ihr Gefühl und ihr Körper sagten etwas anderes. Als sie wegen der Hitze im Zug den obersten Knopf der Bluse hatte öffnen wollen, war sofort Panik über sie gekommen. Also hatte sie ihn schnell wieder geschlossen und sich sofort wohler gefühlt. Auch konnte sie die Angst, die sie überfiel, wenn ein Mann in ihre Nähe kam, nicht beherrschen. Es würde noch viel Zeit brauchen, bis ihre seelischen Wunden verheilt sein würden. Endlich stand sie vor dem Haus, in dem Gerda wohnen sollte. Sie suchte auf den Briefkästen nach Gerdas Namen und fand ihn. Die Haustür stand offen, also ging sie hinein und die Treppe hinauf. Vor jeder Wohnungstür sah sie auf das Namensschild, bis sie Gerdas Namen fand. Ihr Herz schlug wie verrückt, als sie an die Wohnungstür klopfte. Sie hörte Gerdas Stimme: „Moment, ich komme.“ Dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss, Gerda öffnete die Tür und sah Anna fragend an: „Ja bitte, was wollen sie?“ (wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.12.2006