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Nur die Schmerzen drangen durch in ihr Bewusstsein. Dann hörte sie eine Stimme: „Hallo, sind sie wach, können sie mich hören?“ Anna nickte und versuchte wieder ihre Lider zu heben, um zu sehen, wer da mit ihr sprach. Und während sie sich bemühte, die Augen zu öffnen, riss der Nebelschleier vor ihrem Bewusstsein auf und sie erinnerte sich an die grauenvollen Stunden im Bahnhof, an die Demütigungen, die Schmerzen, die Angst und den Ekel vor diesen widerlichen, grausamen und hasserfüllten Männern. Und Berthold, ihr kleiner Junge, wo war er, wie ging es ihm? Sie musste sofort wissen, was mit ihm war und wo er war. Hoffentlich hatten sie ihm nichts getan. Gerda hatte auf ihn aufpassen wollen. Sie musste endlich richtig wach werden und herausfinden, wo ihr Kind war. Mit großer Willensanstrengung gelang es ihr schließlich, die Augen zu öffnen. Sie sah in das freundliche Gesicht einer jungen Schwester, die sie bat, ihr doch ihren Namen zu sagen. „Anna Watzlav, wo ist mein Kind?“ Das Sprechen fiel ihr schwer, ihre Lippen schienen dick angeschwollen zu sein. „Ganz ruhig, ganz ruhig,“ sagte die junge Schwester zu Anna, „die Ärztin kommt gleich und sieht nach ihnen.“

Dr. Marlene Stückradt, eine ältere, sehr energische Frau mit Brille, die ihr leicht ergrautes Haar zu einer Nackenrolle frisiert hatte und einen weißen Kittel trug, hatte die beiden jungen Krankenschwestern begeistert begrüßt, als sie ihr gestern Abend bei Dienstbeginn von dem russischen Kollegen vorgestellt wurden, und ihnen sofort eine Dauerstellung hier in diesem Krankenhaus angeboten, da sie dringend Hilfe brauchten. Doch es fehlte nicht nur an Personal, nein auch an Medikamenten, an Betten, an Wäsche, an allem. Man musste seinen Beruf schon als Berufung sehen, wenn man hier arbeiten wollte. Denn die russischen Besatzer, Görlitz lag in der russischen Besatzungszone, hatten selbst nichts. Die beiden jungen Schwestern hatten ihr Angebot gerne angenommen, sich aber ausgebeten, für zwei Tage nach Cottbus fahren zu dürfen, um nach ihren Familien zu sehen, danach wollten sie den Dienst im Krankenhaus antreten.

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ie Ärztin war einverstanden gewesen, und darum war Anna in das Zimmer der Lernschwester verlegt worden, damit jemand da wäre, wenn sie aufwacht. Und jetzt schien sie aufzuwachen, darum lief die junge Schwester so schnell sie konnte in den zweiten Trakt des Krankenhauses, in dem sie die Ärztin vermutete. Denn den russischen Militärarzt wollte sie auf keinen Fall zu der armen Frau lassen. Nach dem was dieser Anna Watzlav offensichtlich von Männern angetan worden war, war es ratsam, sie vorerst nicht mit der Gegenwart eines Mannes zu konfrontieren, wäre er auch noch so nett. Und Richtig, im Flur der Männerstation traf sie die Ärztin: „Frau Doktor,“ rief sie schon von weitem, „die Frau ist aufgewacht, kommen sie schnell, sie hat große Schmerzen.“

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nd als sie die Ärztin erreicht hatte: „Sie heißt Anna Watzlav und fragt nach ihrem Kind.“ „War denn ein Kind dabei, als sie gebracht wurde?“ fragte die Ärztin. „Soviel ich weiß, nein, ein russischer Oberst und sein Fahrer haben sie hereingetragen und die beiden Schwestern haben mir geholfen, sie zu versorgen, bis sie ja dann gekommen sind und wir sie in mein Zimmer verlegt haben. Bis eben war sie noch nicht bei Bewusstsein.“ „Können wir diesen Oberst noch erreichen?“ „Nein, ich glaube nicht,“ sagte die Schwester, „er ist schon vor Stunden abgefahren, und so viel ich verstanden habe, wollte er zurück in seine russische Heimat. Es war ihm nur wichtig, diese deutsche Frau zu retten, so hat er es ungefähr ausgedrückt.“ „Wenn es einem Russen so wichtig war, ist es für uns noch wichtiger, dieser Frau zu helfen,“ sagte die Ärztin mit resoluter Stimme. „Kommen sie Schwester Waltraud und rufen sie auch Schwester Hildegard von der Frauenstation, ich werde sie brauchen. Um den Verbleib des Kindes werden wir uns später kümmern, wenn wir die arme Frau operiert haben, denn ohne eine Unterleibsoperation, hat sie keine Chance, bei den inneren Verletzungen.“

Eine ganze Woche schwebte Anna zwischen Leben und Tod, aber dann siegte doch der Lebenswille Annas und die medizinische Kompetenz von Dr. Marlene Stückradt. Annas erste Frage, als sie aus der Narkose erwachte, war: „Wo ist mein Sohn?“ Doch alle Versuche Marlenes, telefonisch Kontakt mit dem Roten Kreuz in Haynau Kontakt aufzunehmen, um nach dem Verbleib Bertholds zu fragen, klappten nicht. Entweder war die dortige Rot-Kreuz-Station aufgelöst, oder die Telefone funktionierten noch nicht. Schließlich hatte sie Glück und erreichte das Bürgermeisteramt. Doch die Sekretärin, mit der sie sprach, konnte ihr nur sagen, dass es in dem ganzen Städtchen keine Deutschen mehr gäbe, und von einem Kind sei ihr nichts bekannt.

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er Bürgermeister hatte seiner Sekretärin nichts von Berthold erzählt, weil er den Vorfall mit dem kleinen Jungen schon fast vergessen hatte und die Tatsache, dass ein Bauernehepaar aus Ostpolen ein Kind gefunden hatte, nicht wichtig fand. Daher hatte er auch keine Akte für das Kind angelegt. Das hatte Zeit, bis dieses Bauernehepaar sich noch einmal melden würde. Wenn die beiden den Jungen behalten wollten, sollte es ihm recht sein, er würde ihnen keine Steine in den Weg legen. Als Bürgermeister hatte er die Aufgabe, diese kleine Stadt neu zu organisieren, vernünftige Handwerker hierher zu bekommen, Ärzte, Apotheker, Lehrer, Kaufleute und Bauern. Die Verwaltung musste aufgebaut werden, er brauchte gute Bürokräfte, er hatte weiß Gott andere Sorgen, als sich um ein deutsches Kind zu kümmern. Deshalb hatte er es auch nicht für wichtig gehalten, seiner Sekretärin von dem Jungen zu erzählen. Spätestens wenn die Einwohnermeldestelle eingerichtet war und der Schulbetrieb auch wieder funktionierte, musste der Junge als Pflegekind dieses Bauernpaares registriert werden und damit war der Fall für ihn erledigt.

Annas Heilung schritt zwar nur langsam voran, aber nach drei Wochen war sie so weit wieder hergestellt, dass sie das Krankenhaus verlassen konnte. Sie hatte nur einen Gedanken, sie musste Berthold finden. Und der konnte ja nur bei ihrer Freundin Gerda sein. Sie hatte doch versprochen, auf ihn aufzupassen. Sie erinnerte sich, dass Gerda von einer Cousine in Kassel gesprochen hatte, zu der sie eventuell mit ihren Kindern gehen wollte, in der Hoffnung, dass sie dort vorrübergehend eine Bleibe fänden. Also würde Anna auch versuchen, nach Kassel zu kommen, um dort Gerda und Berthold zu suchen. Sie fühlte, wie wieder so etwas wie Energie in ihr wach wurde. Sie hatte ein Ziel vor sich, und sie würde es erreichen und dann endlich ihren kleinen Jungen wieder in ihre Arme schließen. Die Ärztin, mit der sie sich inzwischen angefreundet hatte, ebenso wie mit den beiden jungen Schwestern, hatte es irgendwie geschafft, Kleidung für Anna aufzutreiben und konnte ihr auch eine kleine Geldsumme für Fahrkarte und Verpflegung leihen.

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och als Anna die helle Sommerkleidung angezogen hatte und das Krankenhaus verließ, begegnete sie vor dem Eingang einem Mann, der bewundernd durch die Zähne pfiff. Erschrocken sprang Anna zurück in die Eingangshalle des Krankenhauses. Lief zur Station, wo sie die Ärztin vermutete, und fiel dieser zitternd in die Arme. „Was ist passiert Anna, mein Gott du zitterst ja,“ sagte diese überrascht. „Draußen ist ein Mann,“ stotterte Anna, „ich kann nicht raus gehen, ich will nicht dass mich ein Mann sieht,“ sagte sie mit Panik in der Stimme. „Aber Anna, draußen sind überall Männer, damit musst du fertig werden, wenn du deinen Berthold finden willst, du kannst dich nicht für den Rest deines Lebens verstecken,“ sagte die Ärztin und sah Anna beschwörend in die Augen. „Du musst keine Angst haben, keiner wird dir mehr etwas tun, hörst du?“ Doch Anna konnte nicht aufhören zu zittern, „ich kann nicht da raus gehen, ich kann nicht,“ sagte sie mutlos. „Ich ertrage es nicht, dass mich ein Mann ansieht, so ansieht, die Angst nimmt mir dann die Luft zum Atmen.“ Bitte hilf mir, lass mich ganz alt aussehen, damit kein Mann einen Blick auf mich wirft.“ „Gut, dann bleib noch einen Tag hier, ich werde sehen, dass ich andere Kleider für dich organisieren kann. Geh inzwischen in die Küche und mach uns einen Kamillentee, ich komme gleich zu dir, dann besprechen wir alles in Ruhe, wir kriegen das schon hin.“

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nna ging, immer noch aufgeregt, in die Küche und versuchte sich zu beruhigen. Was war da gerade passiert? Sie war ja fast durchgedreht, die Angst hatte ihr die Luft genommen, sie hatte geglaubt zu ersticken und da war plötzlich der widerliche Geruch dieser Männer wieder gewesen, nach Alkohol, Schweiß, Geilheit und Urin. Sie bekam ihr Zittern nicht unter Kontrolle, wie sollte es weitergehen? Sie musste sich immer wieder sagen, dass nicht alle Männer so waren. Ihr eigener Mann war doch liebevoll, zärtlich und beschützend gewesen. Sie versuchte sein Bild vor diese schreckliche Erinnerung zu schieben, aber es gelang ihr nicht. Das grauenhafte Bild war stärker, das Gefühl der Angst zu übermächtig. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.11.2006