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Dazu goss sie ihm Tee in seinen Becher. Auch die Anderen bedienten sich jetzt aus der großen Pfanne, die mitten auf dem Tisch stand. Und als alle etwas zu essen und zu trinken vor sich stehen hatten, sprach Marek das Tischgebet, sie wünschten sich einen guten Appetit und dann ließ man sichÕs schmecken.Lydia und Marek sind praktisch veranlagte Menschen, und sich einig, dass man Probleme nie vor dem Essen, sondern immer erst danach besprechen sollte. Was dieser kleine Junge jetzt erst einmal brauchte, war Essen, Trinken und dann ein weiches Bett. Diese Nacht würde er auf jeden Fall bei ihnen bleiben. Morgen würde man dann weiter sehen. Außerdem musste das Gewitter erst einmal überstanden sein, denn wie leicht konnte der Blitz in Scheune und Stallungen einschlagen, oder auch in das Wohnhaus. Sie hatten schon einige Male erlebt, dass Höfe in ihrer früheren Nachbarschaft abgebrannt waren. Die Menschen all ihr Hab und Gut verloren hatten. So war jedes Gewitter eine Angstpartie, bei der es um die Existenz ging.

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ls sie fertig gegessen hatten, wollte Lydia den kleinen Jungen waschen, bevor sie ihn ins Bett brächte, er konnte in einem der Mädchenbetten schlafen, die beiden würden sich ein Bett teilen. Sie füllte warmes Wasser in eine kleine Zinkwanne, während die Mädchen den Tisch abräumten. Dann hob sie Berthold von seinem Stuhl um ihn ausziehen zu können. Doch als sie versuchte, ihm die schmutzige, hellblaue Strickjacke, deren Ärmel er vorne verknotet hatte, von den Schultern zu nehmen, fing er furchtbar an zu schreien: „Nein, nein, bitte, bitte, nicht wegnehmen, nicht wegnehmen, nein.“ Marek kam dazu, gemeinsam gelang es ihnen, dem sich heftig wehrenden Jungen die Jacke runter zu nehmen. Berthold brach förmlich zusammen, als er die Jacke nicht mehr spürte, sein Gesichtsausdruck zeigte solch ein Entsetzen und eine Verzweiflung, dass Marek ihm die Jacke sofort wieder umlegen wollte. Doch Lydia ließ es nicht zu. „Bleib vor ihm stehen, damit er sieht, dass wir ihm die Jacke nicht wegnehmen, sag ihm, dass er sie nach dem Waschen sofort wieder bekommt,“ bestimmte sie energisch. Dann zog sie ihm seine grüne Trachtenjacke und das schweißnasse Hemd aus, wobei zwei undefinierbare Stücke Fleisch herausfielen. Obwohl Berthold sich vor dieser fremden Frau genierte, ließ er die gründliche Wäsche teilnahmslos über sich ergehen, den Blick immer fest auf die Strickjacke in Mareks Händen gerichtet. Er war stocksteif, als sie ihm einen Schlafanzug ihrer jüngsten Tochter anzog. Erst als sie ihm darüber Annas Strickjacke legte, ließ die Anspannung nach und mit geschlossenen Augen schmiegte er sein Gesicht in die Jacke seiner Mama, wickelte sie wieder um seinen Hals und verknotete die Ärmel vor seiner Brust. Diese Menschen hier waren gut zu ihm, das erleichterte ihn ein wenig, aber es verstärkte auch die schreckliche Sehnsucht nach seiner Mama. Es tat so weh, so allein ohne sie zu sein, er konnte das Heimweh und die verzweifelte Sehnsucht nach seiner Mutter nicht verdrängen oder unterdrücken, es war zu stark, darum musste er wieder weinen und zwischen den Schluchzern, rief er immer wieder nach seiner Mama. Marek, seine Frau und seine Kinder waren voller Mitleid mit diesem kleinen Jungen. Lydia brachte ihn ins Bett, betete mit ihm, deckte ihn zu und stellte erleichtert fest, dass er schon nach wenigen Minuten eingeschlafen war.

Inzwischen tobte das Gewitter direkt über ihnen. Marek hatte die Ledertasche mit allen wichtigen Papieren aus dem Schrank genommen und vor sich auf den Tisch gelegt. Lydia packte einen Koffer mit den nötigsten Kleidungsstücken für die ganze Familie und stellte ihn in den Hausflur. Sie überlegten, ob sie die Kinder wieder aus den Betten holen sollten, aber während sie noch darüber sprachen, kamen alle drei schon vollständig angezogen die Treppe aus dem ersten Stock, in dem sich die Schlafzimmer befanden, herunter. Sie hatten wegen des Donners und der Blitze sowieso nicht einschlafen können. Das Gewitter wurde immer schlimmer und noch war kein einziger Regentropfen gefallen. Wenn es sich doch endlich ausregnen würde, dann wäre es ja bald vorbei und sie könnten alle schlafen gehen. Aber weder zog es ab, noch regnete es sich aus.

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arek ging nach oben, um nach dem Jungen zu sehen, denn bei diesen Donnerschlägen, konnte der unmöglich noch schlafen. Doch Berthold schien in eine tiefe Bewusstlosigkeit gefallen zu sein, er lag ganz ruhig, das Gesicht in die Strickjacke gedrückt und das Kopfkissen umarmend. Marek wusste erst nicht was er tun sollte, es schien ihm grausam, den kleinen Kerl aus dem Schlaf zu reißen. Aber wenn der Blitz einschlagen sollte, war es zu gefährlich hier im ersten Stock, schließlich konnte bei einem Einschlag zuerst die Treppe in Brand geraten, dann konnte man ihn nicht retten. Schließlich kam ihm eine Idee: Er zog vorsichtig das Laken unter der Matratze vor und verknotete es über der Bettdecke. So hatte er Berthold wie in einer Hängematte, als er seinen Arm unter den Knoten schob. Und Berthold, das Kopfkissen im Arm, das Gesicht in der Strickjacke, schlief tief und fest weiter, als er ihn die Treppe hinunter, auf das Sofa im Wohnzimmer legte.

Es war schon fast Mitternacht, als das Gewitter abzog und heftiger Regen einsetzte. Alle atmeten auf, die Gefahr war vorüber. Marek trug den schlafenden Berthold wieder ins Bett und dann ging die ganze Familie schlafen. Sie hatten sich am Abend darauf geeinigt, dass sie am nächsten Tag das Rote Kreuz über den gefundenen deutschen Jungen informieren mussten. Vielleicht konnte man dort Angehörige des Kindes ausfindig machen. Und so lange wollten sie ihn gerne bei sich aufnehmen.

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och als sie am nächsten Morgen die Station des Roten Kreuzes aufsuchten, war immer noch kein Personal eingetroffen. Die Patienten versuchten sich selbst zu versorgen und es herrschte ein ziemliches Chaos. Also suchten sie den Bürgermeister auf und schilderten ihm, wie Marek den Jungen gefunden hatte. Der Bürgermeister wusste, dass deutsche Waisenkinder in Heimen in Polen untergebracht werden sollten. Er schlug den beiden vor, entweder den Jungen als billige Arbeitskraft zu behalten, oder ihn in das nächstgelegene Kinderheim zu bringen. Er rate ihnen, ihn in ein Kinderheim zu bringen, da er noch sehr klein sei und daher als Arbeitskraft nicht viel wert. Marek und Lydia fragten den Bürgermeister, ob sie irgendwelche Papiere ausfüllen müssten, oder einen Antrag stellen, falls sie den Jungen bei sich aufnehmen würden. Doch der Bürgermeister winkte nur ab: „Später, sagte er, machen wir alles später.“ Diese Leute nervten ihn, er hatte Wichtigeres zu tun, als sich Gedanken über ein deutsches Kind zu machen.

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n diesem Abend, der einen sternklaren Himmel zeigte, nahm Marek den kleinen deutschen Jungen mit nach draußen, setzte sich mit ihm auf die Bank neben der Haustür, zeigte ihm den Sternenhimmel, und sagte: „Du musst nicht traurig sein, deine Mama ist dort oben im Himmel und sie beschützt dich von dort. Du kannst ihr alles erzählen. Du bist nie allein, Gott und deine Mama werden immer aufpassen auf dich. Und hier unten werde ich dein Vater sein, der dich schützt. Ich glaube, Gott hat es so gewollt. Vergiss nicht, Berthold, du kannst immer mit deiner Mama reden, sie kann dich hören und wird dir helfen. Weißt du was, wir werden jeden Abend zusammen das Nachtgebet sprechen und danach sprichst du noch mit deiner Mama.“ „Aber wie kann sie mich hören, wenn sie so weit weg ist?“ fragte Berthold traurig. „Weil sie ein Engel ist, Engel können das, sie können uns hören, auch wenn wir sie nicht sehen und hören können. Glaube mir, deine Mama kann dich hören und sehen.“ Gemeinsam blickten sie in den sternenübersäten Nachthimmel und Berthold fühlte sich wunderbar getröstet, als er „gute Nacht Mama,“ zum Himmel hinauf sagte. Dann schmiegte er sich an den kratzigen Pullover Mareks und dieser legte schützend und wärmend die Arme um ihn. Marek sah zum Himmel und dachte: „Ich verspreche dir Gott, dass ich gut auf dieses Kind aufpassen werde.“

Im Krankenhaus in Görlitz hatte man Anna in ein Schwesternzimmer gelegt, da die Krankensäle alle belegt waren. Das Zimmer war ungefähr 10qm groß, hatte ein Fenster gegenüber der Tür, einen Aktenschrank, einen Tisch mit drei Stühlen auf der rechten Seite und links an der Wand zwei Betten. In einem lag Anna und in dem anderen schlief die junge Lernschwester Waltraud, die ihr gesamte Familie verloren hatte und nun im Krankenhaus wohnte. So war Anna immer unter Beobachtung. Doch die ganze Nacht und den Vormittag hatte sie nur geschlafen. Aber jetzt schien sie wach zu werden. Die junge Schwester zog die Vorhänge des Fensters zu, damit das grelle Licht der Mittagssonne Anna nicht blenden konnte. Dadurch wurde das Zimmer in ein angenehmes Dämmerlicht getaucht und sah fast gemütlich aus. Anna wusste nicht wo sie war, als sie wach wurde. Sie fühlte nur Schmerzen, ihr Mund war trocken und sie hatte großen Durst. Wo war sie? Und warum tat ihr der ganze Körper so weh? In ihrem Unterleib schien ein Angelhaken zu stecken, an dem jemand heftig zog. Sie stöhnte vor Schmerzen und irgendwie bekam sie ihre Augen nicht richtig auf. Der Nebel in ihrem Kopf wollte sich einfach nicht lichten.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.11.2006