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Weihnachten in Geschichten
Vom Pazifik über Moskau nach Ostwestfalen und zurück - das Fest Christi Geburt lässt die Gedanken schweifen
Sie können als erste das Christkind feiern. Die 2500 Einwohner der Weihnachtsinsel sind nämlich jene Menschen auf dem Globus, bei denen jeder neue Tag zuallererst beginnt.
In ihrer Sprache heißt die Weihnachtsinsel Kritimati, gehört zum zentralpazifischen Inselstaat Kiribati - und liegt somit direkt westlich der Datumsgrenze, uns Ostwestfalen im Tagesverlauf um volle 13 Stunden voraus.
Und wie es der Zufall will, begann die uns bekannte Geschichte dieser Insel tatsächlich mit einer Weihnachtsfeier: Weltumsegler und Entdecker James Cook (1728-1779) persönlich legte am 24. Dezember anno 1777 hier an, so etwa auf halber Strecke zwischen Australien und Hawaii, und blieb dann über die Festtage. Womit klar ist, warum die Weihnachtsinsel Weihnachtsinsel heißt.
Bereits am 25. Dezember 1643 war es einem anderen Eiland ähnlich ergangen. Kapitän William Mynors von der britischen Ostindien-Kompanie ging dort, etwa 350 Kilometer südlich von Java (Indonesien) im Indischen Ozean, an Land. Diese Weihnachtsinsel gehört heute, obwohl fernab vom Mutterland, zu Australien. Doch mit den Weihnachtsfeiern hält es sich in Grenzen. Für die 1600 vorwiegend buddhistischen und muslimischen Bewohner gibt es Wichtigeres als den Tannenbaum.
Kaum vorstellbar für mitteleuropäische Verhältnisse, wo spätestens Mitte Oktober alle Supermärkte auf Weihnachtsdeko umschwenken, Kids, Teens und auch so manches ältere Semester sich unentwegt Gedanken darüber machen, was das Christkind ihnen dieses Jahr denn bloß noch bringen könnte. Gut anderthalb Jahrtausende alt ist die Tradition, den Geburtstag des Religionsstifters auf besondere Art zu begehen. Wobei die Geschenke-Orgien aktueller Prägung den Anlass in den Hintergrund, manchmal gar in Vergessenheit gedrängt haben.
Leider, wie die älteren Menschen sagen, die noch Zeiten erlebten, in denen nach heutigen Maßstäben blanke Not herrschte. Und gerade deshalb das Wenige, was es zu Weihnachten gab, als ganz besonderes Geschenk empfunden wurde.
Gern kramt da auch Anton Riesel aus dem Dorf Vinsebeck, das zu Steinheim im Kreis Höxter zählt, in den Erinnerungen. 90 Jahre zählt er bald - was ja an sich schon einen großen Schatz an Erlebtem bedeutet. Der Chronist heimatlicher Geschichte(n) greift aber noch weiter in die Zeit zurück, viel weiter. Auf Erzählungen seines bereits 1940 im Alter von 82 Jahren verstorbenen Vaters Anton nämlich, der wiederum festgehalten hatte, was schon sein Großvater Christoph Riesel (1789-1879) so erzählt hatte. Und was uns schon beinahe wieder in jene Zeit zurückführt, zu der Captain Cook auf der Weihnachtsinsel landete.
So findet Geschichte in der großen weiten Welt wie vor der Haustür statt. Und dort wie hier waren die Menschen vor etwa 200 Jahren froh, überhaupt etwas zu knabbern zu haben. Dem Herrn dankte man allein schon dafür, wieder ein Jahr überstanden zu haben.
»Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es viel Not und Tod in unserer Heimat«, berichtet Anton Riesel. Denn während und nach der Besetzung durch die Franzosen - Napoleon (1769-1821) hatte damals allenthalben das Sagen, - »herrschte auch in unserer ländlichen Gegend durch Requirieren und Rauben der Hunger und Schmalhans war oft Küchenmeister«. Requirieren war übrigens, dies nur am Rande, wenn die hungrigen Soldaten dem Bauern sein letztes Huhn nahmen. Und rauben, wenn der nunmehr hungrige Bauer irgendwo zugriff. Wer wurde wohl bestraft?
Zudem, so überlieferten es die Vorfahren Anton Riesels, herrschte in vielen Familien Trauer um den Vater oder den Sohn, »die mit dem Franzosenkaiser nach Russland ziehen mussten«, im Herbst 1812 vor Moskau scheiterten und im Winter den Rückzug durch die eisigen Weiten nicht überlebten.
Weihnachten, das Fest der Geburt Christi, war in der Hauptsache ein kirchliches - und wurde höchst genügsam gefeiert. Jene in den Dörfern, die an Heiligabend eine Pfanne mit Rührei und Speck auf dem Tisch stehen hatten, aus der sich alle Familienmitglieder mit dem Holzlöffel bedienten, ein Stück Brot in der Hand und heiße Milch dazu, die gehörten durchaus zu den Glücklichen.
Und zur Mitternachtsmesse gingen alle. »Unsere Dorfkirche, damals noch einfach und schlicht, konnte die frommen Beter kaum fassen«, überliefert Riesel. Dort habe »das Krippchen« im Mittelpunkt gestanden, »die Liegestatt für das Bildnis des Kindes, das um uns zu erlösen vom Himmel auf die Erde kam. Das Heilige Paar und die Hirten mit den Schäfchen waren aus Holz geschnitzt und bunt bemalt, all dieses wohl das Schönste von der Weihnachtszeit für alle Kinder.«
Dass Captain Cook, der britische Südsee-Fahrer, die Weihnachtsinsel entdeckt und benannt hat (Historiker sagen: »Die größte Lobrede auf Cook ist die Seekarte des Pazifik«), das wusste man damals noch nicht im Dorf Vinsebeck, seiner näheren und weiteren Umgebung. Vermutlich interessierte es die Leute auch gar nicht. Sie hatten schließlich genug mit sich selbst zu tun. Auch dass der weitgereiste Landarbeitersohn, der sich all sein Wissen selbst erarbeitet hatte, nach dem Fest auf der Weihnachtsinsel nur noch eines erlebte und dann, lediglich 50 Jahre alt, auf Hawaii bei einem dummen Streit mit Eingeborenen gewaltsam zu Tode kam, erreichte die Menschen im Ostwestfälischen erst Jahrzehnte später. Und wohl auch nur jene, die sich für Erdkunde und Entdecker interessierten. Der Nachrichtenfluss war eben ein anderer als heute.
Andererseits haben sich die Vinsebecker in dieser Sache auch wirklich nichts vorzuwerfen. Denn nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass James Cook jemals hätte Notiz von ihnen genommen - trotz ihres von den Domherren von der Lippe im frühen 18. Jahrhundert errichteten wunderschönen Schlosses, in dem nach der Flucht aus Ostpreußen 1945 auch einmal die später als Journalistin (»Die Zeit«) berühmte Marion Gräfin Dönhoff lebte.
Und so haben wir an dieser Stelle einmal zusammen gebracht, was sonst wohl nicht in Zusammenhang gesehen wird - doch das Fest Christi Geburt ist der gemeinsame Anker in Zeit und Raum. Weihnachten auf Weihnachtsinseln, im tiefsten Ostwestfalen, James Cook, Napoleon und die Erinnerungen der Familie Riesel.
Geschichte und Geschichten lassen sich eben nie besser erzählen als in dieser Zeit. Und sie sind es schließlich, die übers Jahr, die Jahrzehnte und länger viel besser in Erinnerung bleiben als die meisten Geschenke, die nur den Augenblick versüßen. Ingo Steinsdörfer

Artikel vom 23.12.2006