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SEK-Polizisten befreien vier Kinder aus Versteck

Amokläufer tötete sich offenbar mit Sprengsatz

Von Christian Althoff
und Stefan Hörttrich (Fotos)
Emsdetten (WB). Es war 9.28 Uhr, als der Notruf der Schulsekretärin die Polizeileitstelle erreichte: »Hilfe, hier schießt jemand auf die Kinder!« Sechs Minuten später stürmten die ersten vier Streifenbeamten unter Einsatz ihres Lebens in die Schule, vorbei an panisch schreienden Schülern und Lehrern, die sich ins Freie retteten.
Mit diesem Opel Astra war der Amokläufer zur Schule gefahren.

Die Ermittler rekonstruierten später, dass Bastian B. (18) gegen 9.25 Uhr auf den Hof der Geschwister-Scholl-Realschule gestürmt war - bewaffnet mit vier abgesägten Gewehren, einem Messer, 13 selbstgebauten Rohrbomben und mehreren Bundeswehr-Rauchgranaten. Der Amokläufer, der einen schwarzen Mantel und eine Sturmhaube trug, soll auf seinem Weg in die Schule zufällig auf seinen jüngeren Bruder (16) getroffen sein und ihn beiseite geschoben haben. Dann eröffnete der frühere Realschüler offenbar wahllos das Feuer auf Menschen, die ihm begegneten, und zündete einen Sprengsatz. Eine Kugel traf Hausmeister Günther U. (55) in den Bauch. Drei Jungen und ein Mädchen im Alter zwischen 12 und 16 Jahren wurden von Kugeln in Brust, Hand, Knie und Arme getroffen. Sprengsplitter trafen die schwangere Lehrerin Stephanie H. (34) ins Gesicht, außerdem wurden später weitere Kinder durch Rauchgase verletzt.
»Das beherzte Vorgehen der ersten Streifenbeamten hat möglicherweise verhindert, dass es noch mehr Opfer gab«, erklärte der Leitenden Polizeidirektor Hans Volkmann.
Denn die Polizisten hatten erstmals das Konzept umgesetzt, das nach dem Amoklauf von Erfurt alle Beamten in Nordrhein-Westfalen trainiert hatten: Nicht abzuwarten und den Amokläufer nicht mit seinen Geiseln alleine zu lassen, sondern den Täter offensiv anzugehen und gleichzeitig so viele gefährdete Menschen wie möglich in Sicherheit zu bringen.
Unter dem Druck der näherrückenden Polizisten zog sich Bastian B. in den obersten Stock des dreigeschossigen Gebäudes zurück. Auf dem Weg dorthin setzte er eine Gasmaske auf und zündete im Treppenhaus Rauchbomben, die große Teile der Schule verqualmten. »Die SEK-Kräfte, die kurz darauf eintrafen, glaubten, die Schule brenne«, sagte Einsatzleiter Hans Volkmann.
Während die panischen Schüler und Lehrer in der Turnhalle der benachbarten Sonderschule betreut wurden, durchsuchten die Spezialkräfte die Schule Raum für Raum. »Schüler hatten uns den Hinweis gegeben, dass sich vier Kinder in der Schule versteckt haben sollten«, sagte Volkmann. Tatsächlich entdeckten SEK-Beamte vier verängstigte Schüler, die sich in einer Klasse verbarrikadiert hatten, und brachten sie in Sicherheit. Gegen 11.10 Uhr stießen die Polizisten dann im verqualmten zweiten Obergeschoss auf den toten Amokläufer. Münsters Polizeipräsident Hubert Wimber, der den Tatort am Mittag aufgesucht hatte, sagte anschließend: »Der maskierte Mann lag im Flur, neben ihm zwei abgesägte Gewehre. An seiner Hose trug er ein Messer, und an einem Bein war eine Rohrbombe befestigt.«
Erst gestern Abend hatten Beamte des Landeskriminalamtes die Sprengladung am Körper des Amokläufers so weit entschärft, dass Kriminaltechniker und Gerichtsmediziner den Toten untersuchen konnten. Das Obduktionsergebnis soll heute bekanntgegeben werden. »Möglicherweise hat sich der Mann durch Zünden einer Sprengladung das Leben genommen, denn die Wände in der Nähe der Leiche waren beschädigt«, sagte Einsatzleiter Volkmann. Er erklärte, Polizisten hätten bei dem Einsatz keinen Schuss abgegeben. Es habe auch keinen Kontakt zwischen den Beamten und dem Täter gegeben.
Nachdem Polizisten den Vater des Amokläufers informiert hatten, erlitt der Mann einen so schweren Zusammenbruch, dass er auf der Intensivstation des Emsdettener Marienhospitals behandelt werden muss - dort, wo auch einige der Verletzten liegen.
Bei der Durchsuchung des Elternhauses von Bastian B. stießen Polizisten am Nachmittag auf weiteren Sprengstoff.
Schulleiterin Karola Keller sagte, man erwarte die 690 Schüler heute wieder in der Schule, soweit die Eltern ihre Kinder dazu in der Lage sähen. »Wir wollen keinen Unterricht abhalten, sondern beginnen, das Geschehen zu verarbeiten.« NRW-Schulministerin Barbara Sommer hat sechs Psychologen abgeordnet, die Schülern und Lehrerin in den kommenden Tagen zur Seite stehen sollen.

Artikel vom 21.11.2006