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Max Weber(1864 -1920)

»Genussmenschen ohne Herz - und dieses Nichts bildet sich ein, die höchste Stufe des Menschseins erstiegen zu haben.«

Leitartikel
Tragödie in Emsdetten

Bitte nicht auf Durchzug schalten


Von Rolf Dressler
Nun also Emsdetten. Und wieder entsetzt sich die Mitwelt - um schon wenig später wieder TV-Krimi-Spannung mit Mord und Totschlag zu »genießen« oder in den Fernsehnachrichten teuflische Menschenquälerei, Kriegsgreuel und islamistischen Bombenterror eher beiläufig frei Haus geliefert zu bekommen.
Inflationäres Sterben auf allen Kanälen und auch auf bedrucktem Papier. Das stumpft ab, macht gleichgültig. Der Mensch schaltet auf Durchzug, sucht anderwärts neue, bizarre Unterhaltung, Ablenkung, flüchtet von diesem zum nächsten und zum übernächsten »Kick«, undsoweiter, undsofort.
Nie zuvor konnte sich der Homo sapiens, die vorgebliche Krone der Schöpfung, so kinderleicht einer solch abenteuerlich irrwitzigen Gewaltbilder-Flut bedienen wie anhand der heutigen, allgegenwärtigen Medienmaschinerie.
Nicht wenige moderne Eltern finden nichts dabei, dass ihre Sprösslinge sich, sogar schon im Grundschulalter, grausamste Videos »reinziehen«. Auf mahnende Stimmen antworten viele nur mit- leidig lächelnd: Wir haben das im Griff, unser Sohn, unser Töchterchen will doch nur spielen, sagen sie und lassen es damit gut sein.
Der 18 Jahre junge Amokschütze von Emsdetten sei »als Waffennarr« schon seit längerem auffällig gewesen und daher eben »polizeibekannt«, hieß es gleich nach der Tragödie in der Geschwister-Scholl-Realschule im amtstypischen Mitteilungsdeutsch. Das fordert zu kritischen Nachfragen heraus, gewiss. Wer aber kann und will von außen her verlässlich ergründen und beurteilen, woran der Ex-Schüler innerlich bereits zerbrochen war, bevor er zum Äußersten griff und seinem Leben dann, beinahe noch im selben Atemzug, ein Ende setzte?
Auch Psychologen tun gut daran, vorschnelle Deutungsmuster feilzubieten. Auf den schnellen Blick scheint das Motiv klar zu sein, wenn man den Rundumschlag des Täters von Emsdetten nachliest: blutige Rache, blindwütig und eiskalt ausgeheckt zugleich. Doch müssen sich solche und andere Verirrte nicht geradezu ermuntert fühlen durch einen unbändigen Zug zum Ungehörigen, zu sexueller Enthemmung, zu Würdelosigkeit und Unkultur in Kunst, Sprachgebrauch und öffentlichem Umgang?
Die Hemmschwellen in Richtung roher Gewalt sinken gegen Null in einer Zeit, die Pornographie als großartigen Wert lobpreist, der die glanzvolle »gesellschaftliche Befreiung« überhaupt erst ermögliche. Und allerhöchste Lust scheint manchem perverserweise das Töten zu verheißen. Die Antriebsparole globaler Techno-Drogen-Spektakel und ähnlicher Spaß-bis-zum-Abwinken-Exzesse beschreibt der Autor Martin Walser drastisch-sarkastisch so: »Ich huldige dem Zeichen, das mich zerstört, aber zuvorkommend lache ich mich tot...«
Ohne Gesittung sind Demokratie und Menschheit nichts.
PS. Über den Täter und seine Tragik hinaus gilt es der Opfer von Emsdetten zu gedenken.

Artikel vom 21.11.2006