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Afrika wird zur Heimat
eines Oberbayern

»Winterreise«: poetisch und kompromisslos


In Afrika findet er endlich seine Erlösung: Franz Brenninger, Eisenwarenhändler kurz vor dem Konkurs, will eigentlich nur sein Geld zurückholen, das ihm kenianische Geschäftsleute mit kriminellen Machenschaften abgeluchst haben. Doch dann nimmt ihn dieser Kontinent mit seiner Kraft und seiner Magie gefangen und der manisch depressive Mann aus Oberbayern findet endlich seine emotionale Heimat. »Winterreise« heißt das neue Werk von Hans Steinbichler, das heute in den Kinos anläuft. Ein wilder, kompromissloser und gleichzeitig poetischer Film nach dem Drehbuch von Martin Rauhaus, in dem der Schauspieler Josef Bierbichler (»Hierankl«) den kraftstrotzenden und gleichzeitig zerrütteten Brenninger gibt.
Hanna Schygulla als Brenningers Ehefrau und Sibel Kekilli als Leyla können sich kaum entfalten. Josef Bierbichler zieht alle Register und spielt alle anderen an die Wand: Er lärmt und poltert, dröhnt und ächzt, schimpft und tobt. Brenninger ist ein Getriebener, ewig rastlos und ständig hadernd mit der Welt, wenn er nicht gerade in die Antriebslosigkeit seiner Depression verfällt. Sein liebstes Wort ist »Arschloch«, das er auch bei jeder Gelegenheit voll Ingrimm hervorstößt. Selbst seine kränkelnde Frau - die er liebevoll »Muckerl« nennt - kann ihn kaum bändigen.
Während Brenninger immer rastloser wird, wird sie immer stiller und ihr Augenlicht schwindet. Nur eine Operation könnte sie vor dem Erblinden retten. Um Geld zu beschaffen, lässt sich Brenninger auf ein Geldwäschegeschäft mit einem Kenianer ein, bei dem er nicht nur seine letzten Ersparnisse, sondern auch die seines Sohnes in den Sand setzt. Als er sich in Kenia zu seinem Recht verhelfen will, begleitet ihn die junge Kurdin Leyla - Englisch-Übersetzerin und Schutzengel zugleich.
Steinbichler hat die triste Winterlandschaft Deutschlands mit den intensiven Farben Afrikas verwoben - zusammengehalten von Franz Schuberts Liederzyklus »Winterreise«, der unter der sengenden Sonne Afrikas eigenartig bedrückend wirkt. »Schuberts Musik ist in diesem Film wie ein unterirdischer Energiestrom, der von Anfang an schon da ist, auch wenn das erste Lied erst ziemlich spät einsetzt, und im Verlauf immer stärker hervor kommt, immer enger mit Brenninger in Verbindung tritt«, sagt Steinbichler. Während sich Brenninger sonst immer mit lautstarker Rockmusik zudröhnt, findet er in den melancholischen Liedern über Vergänglichkeit und Einsamkeit seine zerrissene Seele wieder. Immer wieder muss er diese Musik hören und singen: »Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück«.

Artikel vom 23.11.2006