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Ob sie dies alles überleben würde, hing von der Widerstandskraft ihres Körpers und der Kunst der Ärzte ab, falls es hier noch Ärzte gab. Die beiden Rot-Kreuz-Schwestern bedankten sich bei Sergej und seinem Fahrer, als sie vor dem Görlitzer Krankenhaus ankamen. Sie wollten so schnell wie möglich versuchen nach Cottbus zu kommen, um dort ihre Angehörigen zu treffen. So hatten sie es vor der Vertreibung verabredet, als klar war, dass sie beide noch in Haynau bleiben mussten. Sergej bat sie, ihn noch in das Krankenhaus zu begleiten, da er sie als Übersetzerinnen brauchte. Die Enttäuschung war riesengroß, als sie in dem zu dreiviertel zerstörten Krankenhaus lediglich einen völlig überforderten russischen Militärarzt antrafen, der ihnen aber sagte, dass eine deutsche Ärztin mit ihm zusammen arbeite, die gerade frei habe und erst in zwei Stunden käme. Gemeinsam mit ihr versuche er den Krankenhausbetrieb einigermaßen aufrecht zu erhalten. Nach langem Palaver und Hin und Her, einigte man sich, dass Anna vorübergehend dort bleiben könne, bis sie sich etwas erholt hätte, aber nur unter der Bedingung, dass die Schwestern auch blieben und sie versorgten. Die jungen Schwestern, mussten Sergej versprechen, dass sie sich um Anna kümmern würden, bis sie aus eigener Kraft reisen könne. Dann machte er sich mit seinem Fahrer auf den Rückweg nach Haynau, um ihre Koffer zu holen und sich von dem Bürgermeister zu verabschieden. Als alles erledigt war, konnte er endlich zu seinem Fahrer sagen: „Domoj, Igor,“ nach Hause.

Marek Matzke, ein polnischer Bauer etwa Mitte Dreißig, ging pfeifend am Bahndamm entlang, um im Schein seiner Taschenlampe Löwenzahn für die Kaninchen auszustechen. Marek war glücklich, seit gestern war er Besitzer eines Bauernhofes, hier am Rande des Städtchens Haynau. Zu Hause hätte er sich den elterlichen Hof mit seinem Bruder teilen müssen, was nicht einfach gewesen wäre, denn der Ertrag konnte vielleicht eine Familie und die alten Eltern ernähren, aber für zwei junge Familien war es zu wenig. Während des Krieges hatten er und sein Bruder, als Kriegsgefangene in einer Munitionsfabrik der Deutschen gearbeitet. Und nur, weil der Hof seiner Eltern nicht sehr groß und auch schon etwas heruntergekommen war, hatten sie ihn nicht an die Deutschen abgeben müssen. Die Großbauern waren alle enteignet worden und hatten auf ihren eigenen Höfen als Knechte der neuen deutschen Herren arbeiten müssen.

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ls der Krieg aus war und die Deutschen vertrieben wurden, wie sie zuvor die Polen vertrieben hatten, war er genau wie sein Bruder wieder nach Hause gegangen. Gott sei Dank, war ihren Frauen und Kindern nichts geschehen. Was an ein Wunder grenzte, wenn man hörte, was viele seiner Landsleute erlebt, oder nicht überlebt hatten. Zu Hause hatte es viel Streit gegeben, da sich die Frau seines Bruders einfach nicht mit seiner Frau verstand. Und so waren alle froh gewesen, als er die Möglichkeit bekam, hier im Westen am Rande der Stadt Haynau, einen eigenen Hof zu bewirtschaften. Gestern waren sie mit Sack und Pack hier angekommen. Der Deutsche, dem dieser Hof gehört hatte, war schon weg gewesen. Und sie hatten, noch bevor sie das Haus beziehen konnten, sofort in den Stall gehen müssen, um die Kühe zu melken, die schon den ganzen Tag geschrieen hatten, weil die vollen Euter schmerzten, aber niemand da war, der sie molk. Danach hatten sie den Stall ausgemistet und die Tiere gefüttert. Erst dann waren sie in das Haus eingezogen. Die Kinder hatten hinter dem Haus die Kaninchenställe entdeckt und die Tiere mit Grünfutter aus der Wiese und mit Wasser versorgt. Nun wollte er noch schnell etwas Löwenzahn für die Nager holen, er musste sich beeilen, denn es würde gleich ein Gewitter geben. Der Himmel war pottschwarz und es war daher schon sehr dunkel. Hier am Bahndamm wuchs reichlich Löwenzahn, das hatte er heute beim Mähen des Grünfutters für die Kühe gesehen. Darum hatte er sich nach der Stallarbeit gleich mit der Taschenlampe und einem Korb auf den Weg gemacht, um so viel als möglich zu stechen. Er sah frohgemut in die Zukunft. Den schrecklichen Krieg und die Besatzungszeit durch die Deutschen hatte er überlebt, und jetzt war er Besitzer eines Hofes. Gut, er musste an die Regierung zahlen, aber das würde bei dem guten Land leicht zu schaffen sein. Und vor allem, es herrschte endlich Frieden in der Familie. Niemand sagte seiner Frau oder ihm mehr, was sie zu tun oder zu lassen hätten.

So pfiff er fröhlich vor sich hin, bis er ein Rascheln in dem Gebüsch vor ihm hörte. Als er den Lichtstrahl der Taschenlampe nach unten richtete, sah er in große angstvolle Kinderaugen. Ein kleiner Junge, der vor Angst zitterte. Beruhigend sprach Marek auf polnisch auf das Kind ein, doch der Junge verstand ihn nicht. Marek hatte sich in deutscher Kriegsgefangenschaft etwas Deutsch angeeignet, so sagte er: „Keine Angst, du keine Angst haben, ich nicht böse.“ Doch der Junge rührte sich nicht, er starrte nur sprachlos in Mareks Gesicht. Der beugte sich zu ihm hinunter, stellte seinen Korb ab und nahm den Jungen, in der Decke und dem wasserdichten Umhang, auf seine starken Arme, wobei er immer wieder „keine Angst, keine Angst,“ murmelte. Na, seine Frau würde schauen, nun brachte er keinen Löwenzahn, sondern ein Kind mit nach Hause. Er nahm sich den Jungen auf den linken Arm, hängte den Korb an den rechten und die Taschenlampe in die rechte Hand, damit er den Weg ausleuchten konnte und schnell nach Hause kam.

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ott hat mich hierher geschickt dachte er, nicht auszudenken, welch schreckliche Nacht dieses arme Kind hier erlebt hätte, allein, bei einem schweren Gewitter. Und dass es ein schweres Gewitter würde, war klar. Die Luft stand förmlich, kein Lüftchen regte sich und die Schwüle war unerträglich. In der Ferne hörte man schon das erste Grummeln, das einem Gewitter vorausgeht. Er beschleunigte seine Schritte und war froh, als er die Umrisse der Hofgebäude erkannte und das hell erleuchtete Küchenfenster des Wohnhauses sah. Seine Frau bereitete gerade das Abendessen für die Familie zu. Seine drei Kinder waren älter als dieser Junge. Sie hatten zwei Töchter von elf und vierzehn Jahren und einen Sohn, der schon siebzehn war.

Als er am Hausgarten vorbei kam, setzte er Berthold auf den Boden, wobei er wieder „keine Angst, keine Angst“ sagte. Dann rupfte er schnell einige Möhren aus der Erde, legte sie in den Korb, nahm Berthold wieder auf den Arm und ging mit ihm ins Haus. Aus der geöffneten Küchentür, duftete es nach gebratenem Speck und Eiern und seine Familie saß schon um den Küchentisch. Als er dieses Bild in sich aufnahm, überrollte ihn wieder ein Glücksgefühl. Wie schön es doch hier war, viel schöner als auf dem elterlichen Hof. Der Garten war gut bestellt, die Gebäude noch alle in Ordnung, das Haus behaglich eingerichtet, man konnte meinen, der Krieg hätte um diesen Hof einen großen Bogen gemacht.

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eine Frau und seine Kinder starrten ihn verwundert an: „ Marek, wen bringst du denn da?“ fragte Lydia erstaunt. „ Dieser kleine Junge lag am Bahndamm, in die Decke und den Regenumhang eingerollt. Ich konnte ihn doch nicht da liegen lassen, es kommt gleich ein schweres Gewitter. Aber er spricht kein Wort, ist wahrscheinlich zu verängstigt. Wer weiß, was der kleine Kerl erlebt hat,“ sagte Marek. „Aber seine Mutter wird ihn suchen, vielleicht war sie nur unterwegs, um etwas Essbares zu besorgen, oder eine Unterkunft. Und du hast ihn jetzt dort weggeholt und wenn sie zurück kommt, ist er nicht mehr da.“ Marek wandte sich zu Berthold, ging in die Knie, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein und fragte auf deutsch: „Wo ist deine Mama, Junge, ist sie auch dort draußen?“ Berthold, der langsam aus seiner Erstarrung kam, schüttelte seinen Kopf, Tränen schossen aus seinen Augen und er stammelte unter Schluchzen: „Mama ist weg, tot, tot.“ Und er steckte seinen Kopf weinend in Annas Strickjacke. Ratlos sahen sich Marek und Lydia an, was für ein armes Kind! Seine beiden Mädchen kamen hinter dem Tisch vor, beugten sich über den fremden kleinen Jungen, streichelten ihn und versuchten ihn auf polnisch zu beruhigen. Marek wies seinen Ältesten an, die Möhren zu den Kaninchen zu bringen und dann ihre Ställe mit den alten Getreidesäcken, die auf den Stalldächern lagen, zu verhängen, damit sie vor dem Gewitter geschützt wären.

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aum war sein Sohn wieder im Haus, hörte man das erste Donnern. „Lasst uns schnell essen, denn wenn das Gewitter richtig hier ist, können wir nicht mehr essen,“ sagte Lydia, die streng gläubig war und behauptete, in der Bibel stehe, dass Gott von den Menschen erwarte, dass sie bei einem Gewitter beteten. Und es stehe dort wörtlich: „Den Schläfer lass schlafen, den Fresser schlag tot.“ Wo das geschrieben stand konnte sie allerdings nicht sagen. Aber sie achtete streng darauf, dass keiner aus ihrer Familie während eines Gewitters aß. Schnell holte sie einen Teller und einen Becher für Berthold. Sie wischte dem kleinen deutschen Jungen mit einem Tuch das verweinte Gesicht ab und rückte seinen Stuhl dichter an den Tisch. Dann legte sie ihm eine Scheibe Brot auf den Teller und schaufelte eine große Portion Eier mit Speck darauf.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.11.2006