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Ohne den Geruch und die Wärme dieser Jacke würde er sofort sterben, davon war er überzeugt. Vorsichtig bog er einige Zweige auseinander und spähte zum Hinterausgang des Bahnhofes. Dort sah er eine Frau heraus kommen, die in der einen Hand einen Eimer mit leeren Flaschen trug, und über dem anderen Arm das Kleid seiner Mutter. Er war ganz sicher, dass es ihr Kleid war, weißgrundig, mit großen hellblauen Blumen. Warum hatte diese Frau Mamas Kleid? Was wollte sie damit? Seine Mama musste in der Nähe sein, die Frau wusste bestimmt wo sie war. Es gab für Berthold kein Halten mehr, er rannte aus seinem Versteck auf die Frau zu, die erstaunt stehen blieb, als sie den kleinen Jungen, bekleidet mit kurzer Hose und Trachtenjacke, auf sich zu rennen sah. Trotz des schwülen Wetters hatte er eine hellblaue Strickjacke um seinen Hals gebunden, seine Haare klebten am Kopf und sein Gesicht war schmutzig.

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temlos und aufgeregt blieb Berthold vor ihr stehen: „Wo ist meine Mama?“ rief er immer wieder und zeigte auf das zerrissene Kleid. Die Frau verstand was der kleine Junge von ihr wollte. Und er tat ihr furchtbar leid, denn sie konnte ihm ja nicht sagen, wo seine Mama war. Sie war gerade dabei mit ihrer Familie diese Wohnung zu beziehen und hatte dieses zerrissene Kleid, Wäsche und Blutspuren vorgefunden. Also ahnte sie, was sich hier abgespielt hatte. Doch das durfte dieser kleine Junge nicht erfahren. Also strich sie ihm erst einmal beruhigend über den Kopf, stellte den Eimer mit den leeren Flaschen ab, legte das zerrissene Kleid darüber, und bedeutete Berthold, er solle mit ihr kommen. Berthold dachte natürlich, dass diese Frau ihn jetzt zu seiner Mama bringen würde, legte vertrauensvoll seine kleine Hand in die ihre und freute sich auf das Wiedersehen. Er strahlte über sein kleines erdverschmiertes Gesichtchen.

Die Frau des neuen polnischen Bahnhofsvorstehers hatte selbst zwei kleine Jungen und ihr tat dieses Kind so leid, das gleich schrecklich enttäuscht werden würde. Aber sie konnte ihm nicht helfen, die einzigen, die eventuell seine Mutter finden konnten, falls sie noch lebte, waren die Leute vom Roten Kreuz. Dorthin ging sie mit Berthold. Aber als sie am Nebengebäude des Rathauses ankamen, war die Station verwaist. Es lagen zwar einige Kranke und Verletzte in den Metallbetten, aber weder ein Arzt, noch eine Schwester war zu sehen. Einer der Kranken berichtete ihr, dass vor etwa einer halben Stunde ein russischer Oberst gekommen sei und zwei Schwestern seien mit einem, in dicke Decken eingewickelten Schwerverletzten, bei ihm hinten auf den Wagen gestiegen, und davon gefahren. Ein Arzt sei schon seit Tagen nicht mehr hier gewesen.

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nd nun warte man auf Schwestern des polnischen Roten Kreuzes. Was sollte sie nun mit diesem kleinen Jungen anfangen? Berthold blickte erwartungsvoll zu ihr hoch, immer noch dachte er, dass er gleich seine Mama sehen würde. Aber er hatte sie um eine halbe Stunde verpasst, war ihr so nahe gewesen, ohne es zu wissen. Die Frau fühlte sich immer unbehaglicher, mit nach Hause konnte sie den Jungen nicht nehmen, das würde ihr Mann nicht zulassen, also wohin mit ihm? Zum Bürgermeister! Jawohl, sie würde ihn zum Bürgermeister bringen. Sollte der sich doch darum kümmern. Sie war zwar eine gutmütige Frau, aber wie viele Menschen, eben nur so lange, so lange es sie keine Mühe kostete und sie nicht in Schwierigkeiten brachte. Wieder strich sie Berthold über die Haare und bedeutete ihm, mit ihr zu kommen. Der Bürgermeister war gerade dabei sein Büro einzurichten und wusste auch nicht, was er mit dem Jungen tun sollte. Berthold dämmerte allmählich, dass die Frau ihn gar nicht zu seiner Mama brachte. Und vor dem Mann in diesem Büro hatte er Angst. Also sagte er zu der Frau, dass er mal Pipi machen müsse, woraufhin ihm der Mann zeigte, dass hinter dem Gebäude ein Häuschen sei, wohin er gehen könne.
Und während die Frau des Bahnhofsvorstehers und der Bürgermeister noch darüber stritten, wer sich nun um den Jungen kümmern müsse, rannte Berthold wie um sein Leben, erst zu dem Häuschen und dann um dieses herum, in die nächste Straße.

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r musste wieder zum Bahnhof kommen, sich bis zur Dunkelheit verstecken, und dann den langen Weg nach Hause gehen. Er rannte und rannte, denn er hatte Angst, dass die Frau hinter ihm herkäme und ihn wieder zu diesem fremden Mann bringen würde. Dass der ihn nicht mochte, hatte Berthold gleich an seiner unfreundlichen Stimme gemerkt. Endlich sah er den Bahnhofsvorplatz, es waren viele Leute dort und keiner achtete auf den kleinen blonden Jungen, der zum Bahndamm lief. Berthold war froh, als er am Rucksack seiner Mutter ankam. Er zog den dunklen Regenumhang aus der Tasche, und wickelte eine Decke und ein Kissen hinein. Es waren noch zwei Schnitzel da, die steckte er einfach in sein Hemd, die restlichen Kekse in die Hosentaschen. Und die Apfelsaftflasche, in der nicht mehr viel drin war, nahm er in die Hand. Schade, dass er seinen kleinen Rucksack in dem Gebüsch gelassen hatte, als er zu der Frau gelaufen war. Aber er würde nicht mehr dorthin zurücklaufen, denn bestimmt suchten sie ihn dort schon. Doch niemand suchte nach ihm, Beide, der Bürgermeister, wie auch die Frau des Bahnhofsvorstehers waren froh, dass sie das Problem „Waisenjunge“ los waren. Mochten sich doch andere darum kümmern. Sie hatten ihre eigenen Sorgen, was ging sie da ein deutscher Junge an.

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nnas Papiere, die sie in dem Wachstuchgürtel gehabt hatte, waren von den Soldaten in Stücke gerissen worden, nachdem sie sich das Geld herausgenommen hatten. Und die Frau des Bahnhofsvorstehers hatte sie zusammengefegt und in den Küchenherd gesteckt, als sie die Wohnung beim Einzug sauber machte. Die Blutflecke hatte sie nicht entfernen können und darum einfach einen Teppich darüber gelegt. Den hatte ihr Mann unterwegs aus einem anderen Haus „organisiert.“ So war jede Möglichkeit, in diesem Ort eine Spur von Anna zu finden, zerstört.

Berthold ärgerte sich, dass er seine Zeichnung zurückgelassen hatte, so konnte er seiner Mutter nicht mitteilen, dass er nach Hause gegangen war. In seinem Kopf ging alles durcheinander, das Kleid, wieso hatte diese fremde Frau das Kleid seiner Mama über dem Arm gehabt? Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag: Seine Mama war tot, der böse Soldat hatte sie erschossen, genau wie Opa Josef! Wie von Furien gehetzt, rannte er am Bahndamm entlang, bis zu dem Gebüsch, in dem er sich schon in der Frühe versteckt hatte. Er rollte den Regenumhang und die Decke auseinander, wickelte sich hinein, schlang Annas Strickjacke fest um seinen Kopf und weinte um seine Mama, ohne die er doch nicht leben konnte und auch nicht wollte. Eine riesige Woge von Verzweiflung, Einsamkeit und Sehnsucht nach seiner Mutter, schlug über Berthold zusammen. Aller Lebensmut hatte ihn verlassen, er würde hier so lange liegen bleiben und weinen, bis er tot wäre, nahm er sich vor und schluchzte in das Einzige, was ihm von seiner Mama geblieben war: Ihre Strickjacke, die nach ihr roch und weich und warm war, was bei der unerträglichen Schwüle dieses Tages, im Normalfall eher unangenehm gewesen wäre, aber für Berthold in seiner Einsamkeit und Angst, war die Wärme der Strickjacke seiner Mutter der einzige Trost und das einzige Stückchen Geborgenheit das er hatte. Ihm war gar nicht bewusst, dass er nass geschwitzt war, das einzige was er fühlte, war Angst.

Oberst Potow und sein Fahrer, die beiden deutschen Rot-Kreuz-Schwestern und Anna waren auf dem Weg nach Görlitz. Man hatte den beiden befohlen, in der Station zu bleiben, bis sie von polnischen Krankenschwestern abgelöst wurden. Doch leider waren noch keine eingetroffen und die beiden jungen Mädchen hatte schreckliche Angst, ohne den Schutz ihrer Familien, ganz allein den feindseligen Polen ausgeliefert zu sein. Deshalb hatten sie den Oberst angefleht, sie doch auch mitzunehmen. In Anbetracht, des schlechten Zustandes seines Schützlings, dachte Sergej, dass die beiden Schwestern unterwegs eine Hilfe sein könnten, falls dieses arme, geschundene Wesen zu sich kommen sollte. Darum war er einverstanden, sollte sich doch jetzt sein Nachfolger, der Bürgermeister, um die Versorgung der Station kümmern er fühlte sich nicht mehr verantwortlich. Sie hatten Anna wieder in zwei Bettdecken gepackt und mit einem Kissen unter dem Kopf auf den Rücksitz gelegt. Die Schwestern mussten sich zwischen Rückbank und Vordersitze zwängen. Es war sehr unbequem, aber es hatte den Vorteil, dass sie Anna fest im Blick hatten und sie bei der rumpeligen Fahrt festhalten konnten. Gepäck hatten die Schwestern nicht mitnehmen können, nur wenige Kleidungsstücke und Wäsche, auf denen sie mehr knieten als saßen. Auch Sergej hatte seinen Koffer und den des Fahrers, auf dem Bürgermeisteramt zurückgelassen. Sie würden sie auf der Rückfahrt abholen.

Als sie die Neiße überquerten und damit polnisch verwaltetes Gebiet verließen, umarmten sich die jungen Schwestern und weinten vor Erleichterung. Auch Sergej war erleichtert, jetzt drohte seinem Schützling keine Gefahr mehr. Zumindest nicht von außen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.11.2006