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Unruhe in deutschen Museen

Krisengipfel der Experten zum Thema Raubkunst am Montag in Berlin

Berlin (dpa). In Deutschlands Museen herrscht Alarmstufe eins. Am Montag trifft Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) mit den Museumschefs zum »Krisengipfel« zusammen. Es geht um die Zukunft hochkarätiger Sammlungen und um Millionen Euro.

Die Rückgabe von Ernst Ludwig Kirchners »Berliner Straßenszene« (1913) an die Nachfahren des früheren jüdischen Besitzers Alfred Hess hat die Kunsthäuser in Aufregung versetzt. Sie werden mit Forderungen von Nachfahren der Verfolgten konfrontiert und fürchten den Verlust bedeutender Werke. In Berlin wollen die Museumsleute eine Linie im Umgang mit geraubter Kunst finden.
Neuen Auftrieb erhält die Debatte über die Kunstgüter aus einst jüdischem Besitz durch die Versteigerung des Kirchner-Gemäldes Anfang November in New York für umgerechnet 38 Millionen Dollar. Etwa zehn Prozent der Werke, die zur Herbstauktion von Christie's unter den Hammer kamen, hatten Erben von Verfolgten als Restitutionsgüter von Kunsthäusern zurückerhalten.
Von deutschen Museen werden nach Expertenschätzungen etwa hundert Werke des deutschen Expressionismus zurückgefordert. Dazu gehören Franz Marcs Ölbild »Die kleinen blauen Pferde« (1912) aus der Stuttgarter Staatsgalerie, Kirchners »Urteil des Paris« (1913) aus dem Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen und Marcs »Katze hinter einem Baum« (1910/1911) aus dem Sprengel Museum Hannover. Betroffen sollen mehr als ein Dutzend Häuser sein.
Der Chef der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Martin Roth, hat ein düsteres Bild gezeichnet. Rechtsanwälte, Sammler und Galeristen würden die Museen im Osten nach strittigen Fällen »regelrecht« durchforsten. Auch aus dem Brücke-Museum, wo bis bis August das Kirchner-Gemälde hing, wurde Protest laut. »Illegal, eilfertig, grundlos« nannte Lutz von Pufendorf, Vorsitzender des Museumsvereins, die Rückgabe des Gemäldes an die Hess-Erbin Anita Halpin. Berlins Kultursenator Thomas Flierl (Linkspartei), der zwei Jahre mit Halpins Anwälten verhandelte, habe mit der »ungerechtfertigten Verschenkung« schweren kulturpolitischen Schaden angerichtet.
Der einstige Berliner Kultursenator Christoph Stölzl, heute Geschäftsführer im Auktionshaus Villa Grisebach, sah keine Notwendigkeit für eine Rückgabe der »Straßenszene«. Die Beweislage sei dürftig, die Besitzgeschichte habe nichts mit Verfolgung zu tun. Das Bild sei vom Senat auf die »bloße, durch nichts bewiesene Behauptung hin« restituiert worden, dass die Witwe den Kaufpreis nicht erhalten habe. Man müsse davon ausgehen, dass Hagemann das Geld an die Hess' gezahlt hat.
Provenienzforscherin Voigt wünscht sich eine Präzisierung der Handreichung. Die Museen würden allein gelassen. Selbst für das Spitzentreffen der Museumsleute seien die Wissenschaftler aus dem Arbeitskreis Provenienzforschung nicht eingeladen. Voigt schlägt die Gründung einer Forschungsstelle zur Beratung der Museen vor. Die könnte an die Magdeburger Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste angegliedert werden, die vermisste Kunstwerke auflistet und ins Internet stellt.

Artikel vom 18.11.2006