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»Lächerliche zwei Jahre auf Bewährung für unsägliche Menschen-schinderei.«

Leitartikel
Markus Wolf und andere

Zweierlei Maß verbiegt das Recht


Von Helmut Matthies
Eine große deutsche Tageszeitung brachte am 8. November einen langen Artikel über eine 83 Jahre alte Frau, die im letzten Kriegsjahr als Wärterin im KZ Ravensbrück arbeitete. Sie war in den 1950er Jahren in die USA ausgewandert und hatte dort einen deutschen Juden geheiratet.
Als vor zwei Jahren ihre KZ-Tätigkeit entdeckt wurde, hat sie sie sofort zugegeben, aber betont, nicht Mitglied der NSDAP gewesen zu sein und auch nicht gewusst zu haben, was in dem Lager geschehen ist, in dem nahezu 50 000 Häftlinge umkamen. Nun ist sie nach Deutschland zurückgekehrt, um sich einer möglichen Strafverfolgung zu stellen. Sollte sie sich vor mehr als 60 Jahren als 21-Jährige tatsächlich an Verbrechen beteiligt haben, müsste sie selbstverständlich bestraft werden.
Die gleiche namhafte deutsche Tageszeitung widmete zwei Tage später einem der nachgewiesen schlimmsten Übeltäter des letzten Jahrhunderts dagegen nur zwei kleine Spalten: Markus Wolf, der am 9. November im Alter von 83 Jahren in Berlin starb.
Als erfolgreichste Aktion des Chefs von etwa 4000 Auslandsagenten der DDR gilt, dass er bei dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt den DDR-Spion Günter Guillaume plazieren konnte, was zu Brandts Rücktritt führte. Auch kaufte Markus Wolf die Stimme eines CDU-Bundestagsabgeordneten, so dass deshalb die Wahl des CDU-Kandidaten Rainer Barzel zum Bundeskanzler nicht gelingen konnte. Mit Lug und Trug hat Markus Wolf also die Geschichte des demokratischen Deutschlands entscheidend beeinflusst.
Zugleich war er Stellvertreter Erich Mielkes, des berüchtigten Chefs der DDR-Stasi. Sie bespitzelte sechs Millionen Bürger, schürte skrupellos Misstrauen und inszenierte beliebig Intrigen, Verrat, ja, Tod. Weil gerade auch Markus Wolf dazu eisern schwieg, sind führende Agenten der einstigen DDR bis heute nicht enttarnt, laufen frei und unbehelligt umher.
»Markus Wolf war der Mitanführer einer Bande zumeist primitiver Verbrecher« - so urteilte zutreffend der Philosoph Wolfgang Templin, einst führender Bürgerrechtler in der DDR und Mitbegründer von »Bündnis 90", in einem Nachruf. Er wurde zwar vom Oberlandesgericht Düsseldorf 1993 wegen Landesverrats zu sechs Jahren Haft verurteilt, aber das Bundesverfassungsgericht hat dem widersprochen. Einer, der unsägliches Leid über Menschen gebracht hat, kam mit zwei Jahren auf Bewährung davon!
Auch seit der Wiedervereinigung lebte Wolf im Wohlstand, verehrt von seinen Genossen, als prominentester Verteidiger des SED-Unrechtsstaates beklatscht in zahllosen Talkshows. Eine führende Tageszeitung Israels, die »Jerusalem Post«, verklärte ihn gar zum »unbestritten besten Spionagechef der Welt". Hätte das Blatt eine solche Bezeichnung auch gewählt, wenn Wolf nicht Sohn eines jüdischen Arztes gewesen wäre, sondern christlicher Eltern?
Nur wenige Tageszeitungen und sonstige Medien haben in ihren Nachrufen die Schreckenstaten Wolfs erwähnt.
Auch das gehört zur Wirklichkeit Deutschlands im Jahre 2006.

Artikel vom 20.11.2006