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Sie drückte ihre beiden Kleinen an sich und mit gewaltigem Ruckeln fuhr der Zug an, in Richtung Westen, der rettenden Grenze entgegen.

Berthold sah den Rücklichtern des Zuges nach, die Militärfahrzeuge, die mit ihren Scheinwerfern das Szenario des Einstiegs beleuchtet hatten, wendeten und fuhren davon.

S
o lag der Bahnhof plötzlich im Dunkeln. Berthold schlich sich zu dem Platz, an dem er zuletzt mit Anna gelegen hatte, und an dem auch noch ihr Rucksack und die Reisetasche lag. Hier würde er auf Mama warten. Bestimmt kam sie gleich, dann war alles gut. So versuchte er die schreckliche Angst, die ihn erfasst hatte, zu beherrschen. Doch es gelang ihm nicht. Er wickelte sich die Strickjacke seiner Mama um den Kopf, sie roch nach ihr und gab ihm ein kleines bisschen die Illusion von Wärme und Geborgenheit. Ab und zu rief er leise „Mama“ in die Dunkelheit hinein. Doch seine Mama kam nicht. Ihm wurde kalt, er kroch mit den Beinen in die geöffnete Reisetasche, spürte die Decken und zog eine heraus und über sich. Ein Kissen nahm er auch heraus, legte es unter seinen Kopf, um den er wieder die Strickjacke wickelte und schlang seine Ärmchen um Annas Rucksack, so als sei sie es. Er weinte all seine Angst, Verzweiflung und Verlassenheit in Annas Strickjacke, die sein einziger Trost war. Nachdem er noch ein paar mal „Mama“, gerufen hatte, schlief er endlich vor Erschöpfung ein.

Im Morgengrauen wurde Berthold durch das Geräusch eines durchfahrenden Zuges geweckt. Im ersten Moment wusste er nicht, wo er war. Allmählich kam die Erinnerung an den gestrigen Tag und das Entsetzen und die Angst erfassten ihn wieder. Er sah sich um, doch keine Menschenseele war zu sehen. Und obwohl er schreckliche Angst hatte, schälte er sich aus der Decke und der Reisetasche, band sich Annas Strickjacke mit den Ärmeln fest um seine Schultern, und ging vorsichtig um sich schauend zum Bahnhofseingang. Er musste seine Mama finden, denn was sollte er denn ohne sie tun? Was, wenn der böse Soldat sie erschossen hatte, wie Opa Josef? Diesen Gedanken konnte er nicht zu Ende denken, nein, er musste sie finden. Der Bahnhof schien menschenleer zu sein. Berthold hatte Mühe, die schwere Eingangstür zu öffnen, und als es ihm gelungen war, quietschte sie ganz furchtbar, so dass er Angst hatte, entdeckt zu werden. Doch in der Bahnhofshalle war keine Menschenseele. Er ging durch die Halle, wobei er immer leise „Mama“, rief. Dann durch die Gaststätte, in der ein paar Betrunkene auf Bänken lagen und schnarchten, so dass er Angst hatte an ihnen vorbei zu gehen. So flüsterte er nur „Mama,“ und als keine Antwort kam, schlich er sich wieder hinaus.

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or dem Hinterausgang war eine Toilette, die er auch gleich benutzte. Toilettenpapier war dort auch keines. Doch ein paar Zeitungen lagen herum. Die nahm er, legte sie zusammen und steckte sie in seinen Hosenbund, für später, wenn er mit seiner Mutter weitergehen musste, dann brauchten sie kein hartes Zeichenpapier aus seinem Block zu benutzen. Er dachte: „Mama wird sich freuen, wenn ich ihr das Papier gebe.“ Neben dem Hinterausgang entdeckte er draußen einen Wasserhahn. Daraus füllte er die fast leere Apfelsaftflasche aus seinem Rucksack auf. Und nahm sich vor, gleich auch noch die Flasche seiner Mama aus deren Rucksack zu holen und mit Wasser zu füllen. Mama würde stolz auf ihn sein, wenn sie kam. Aber wo war sie? Hier war sie nicht. Er ging wieder in die Bahnhofshalle hinein und schaute zu der Treppe hin, die von der Halle nach oben führte. Aber er hatte zuviel Angst hinauf zu gehen. Er stand am Fuß der Treppe und rief ein paar Mal „Mama“, aber es kam keine Antwort. Sollte er nun hinaufgehen, oder nicht? Lieber nicht, entschied er für sich. Denn wenn die Mama dort oben wäre, hätte sie sein Rufen gehört, und wäre herunter gekommen. Er nahm all seinen Mut zusammen, und rief noch einmal so laut er konnte: „Mama,“ wartete, mit angehaltenem Atem, ob er eine Antwort bekam, und lief dann, aus Angst es könnte ihn einer der betrunkenen Männer in der Gaststätte gehört haben, wieder durch die leere Halle zurück zur Hintertür, die leichter aufging, als die schwere, große Eingangstür der Bahnhofshalle. Außerdem war er dann auch vom Bahnhofsvorplatz nicht zu sehen, wenn er sich hinter dem Bahnhofsgebäude, im Schutz der dort stehenden Büsche, am Bahndamm entlang schlich.

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r wusste, er musste vorsichtig sein, die Soldaten durften ihn nicht sehen, sonst würden sie ihn bestimmt totschießen, wie Opa Josef, weil er nicht mit dem Zug gefahren war. Ach, wenn doch die Mama endlich wiederkäme. Wo war sie denn? Als er den Rucksack und die Reisetasche von weitem sah, hoffte er, seine Mama würde vielleicht schlafend daneben liegen. Doch als er näher kam, musste er traurig erkennen, dass sie nicht da war. Er war ganz allein. Als er gerade versuchte, die große Apfelsaftflasche aus Annas Rucksack zu ziehen, hörte er ein Auto auf den Bahnhofsvorplatz fahren. Er drehte sich um und sah zwei Soldaten aus dem Auto aussteigen, beide hatten Gewehre umgehängt. Sofort dachte er, dass sie auf der Suche nach ihm wären, um ihn zu erschießen. Er ließ alles liegen und rannte, nur sein kleines Rucksäckchen mit der Flasche Wasser und den Keksen von Theresa drin, und die Strickjacke seiner Mama um die Schultern gebunden, am Bahndamm entlang, zurück in die Richtung, aus der sie gestern gekommen waren.

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eg vom Bahnhof. Als er an ein größeres Gebüsch kam, kroch er ganz tief hinein, so dass man ihn weder von den Bahnschienen, noch von der nahen Straße aus sehen konnte. Dort atmete er erst einmal tief durch, er hatte heftige Seitenstiche und zitterte vor Angst. Was sollte er nur tun? Am Bahnhof war es zu gefährlich, dort konnte er nicht auf die Mama warten. Zur Straße konnte er auch nicht gehen, es war schon zu hell, sie würden ihn sehen und erschießen. Er weinte ganz leise in Annas Strickjacke, steckte sein Gesicht ganz hinein. Und plötzlich wurde ihm klar, was er tun würde: Er musste nach Hause gehen, zu Theresa und Hexie. Und mit ihnen zusammen würde er auf Mama warten. Denn irgendwann würde auch sie wieder nach Hause kommen. Sie hatte es ja gesagt. Sie besuchte nur die Großeltern in Dresden, und kam dann wieder nach Hause.
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ann waren ja auch die bösen Männer wieder weg. Das hatte sie gesagt. Und daran glaubte Berthold fest. Er musste nur warten, bis es wieder Abend wurde, dann würde er zur Straße schleichen, und im Straßengraben entlang, erst einmal bis zu dem kleinen Birkenwäldchen von gestern gehen. Und von dort in der nächsten Nacht wieder weiter, immer die Straße entlang, bis nach Hause. Ja, das würde er tun. Aber vorher würde er noch einmal zurückschleichen, um sich eine Decke und die restlichen Kekse aus Mamas Gepäck zu holen. Doch jetzt war das zu gefährlich, er hörte Autogeräusche und Männerstimmen. Es musste erst dunkel sein und alle schlafen. Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, wurde er ruhiger, wischte sich die Tränen ab, legte sich auf den weichen Moosboden, nahm seinen Rucksack als Kopfkissen, zog die Beine an den Bauch, die Strickjacke seiner Mama um das Gesicht und malte sich das Wiedersehen mit Hexie, Theresa und Mama in den schönsten Farben aus. Und mit diesen Vorstellungen schlief er ein, und war im Traum zu Hause.

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ie beiden Soldaten, die Berthold gesehen hatte, waren der russische Kommandant von Haynau, Oberst Sergej Potow, mit seinem Fahrer gewesen. Um 6 Uhr früh sollte er die Leitung der Ortschaft an die Polen übergeben. Er war nur etwas früher gekommen, weil er in der Wohnung des deutschen Bahnhofsvorstehers eine wunderschöne Uhr mit einem Glockenspiel gesehen hatte, sowie einige Spielsachen, über die sich seine Kinder freuen würden. Und die der Deutsche nicht hatte mitnehmen können, als er und seine Familie gestern die Wohnung verlassen mussten und mit dem ersten Zug in den Westen gebracht worden waren. Sergej Potow, war eine imposante Erscheinung, groß und breitschultrig mit kurz geschorenen Haaren und gutgeschnittenem Gesicht.

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r war seit Kriegsende der Kommandant dieses Ortes und hatte sich mit den noch hier lebenden Deutschen ganz gut verstanden. Doch er war froh, jetzt endlich wieder nach Hause zu seiner Frau, seinen beiden kleinen Mädchen und zu seinen Eltern zu kommen. Sie hatten Glück gehabt, bis zu ihrer Stadt waren die Deutschen nicht vorgedrungen, so würde er sein Zuhause so wiederfinden, wie er es verlassen hatte. Nach alldem, was er hier erlebt hatte, wusste er wie dankbar er dafür sein musste.

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er Krieg war zu Ende, und er würde die Armee verlassen und wieder seinen Beruf als Rechtsanwalt ausüben. Ihm war klar, dass nicht alle Deutschen schlecht waren, genauso wie es üble Charaktere bei den Russen und Polen gab, so gab es sie eben auch bei den Deutschen. Nur entschuldigte das natürlich nicht das furchtbare Leid, das die Nationalsozialisten über die Völker gebracht hatten. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.11.2006