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Berthold, wir müssen ganz plötzlich verreisen, wasch dich und zieh dich schnell an. Theresa macht unten Frühstück, wenn du fertig bist, kannst du schon runter gehen.“ „Wohin verreisen wir denn Mama?“ „Zu Deinen Großeltern nach Dresden,“ log Anna. „Fahren wir mit der Eisenbahn, oder fährt uns Opa Josef mit der Kutsche?“ „Nein,“ antwortete Anna, „Opa Josef muss hier bleiben und auf Hexie aufpassen, denn die können wir nicht mitnehmen. Wir werden mit einem großen Lastwagen mit vielen Leuten hier aus dem Dorf fahren.“ „Wollen die denn alle nach Dresden?“ „Nein, die steigen unterwegs aus, wenn sie dort sind, wo sie hinwollen. Ich habe dir doch erzählt, dass die Eisenbahn nicht fährt, weil die Gleise kaputt sind. Das muss erst alles wieder repariert werden.“ „Wenn die ganz schnell reparieren, dann können wir ja vielleicht mit der Eisenbahn fahren, wenn wir wieder zurückkommen,“ hoffte Berthold, der, wie die meisten kleinen Jungen, Eisenbahnen toll fand.

Anna war froh, dass Berthold kein Theater machte, weil sie Hexie nicht mitnehmen durften. Sie nahm ihn an den Schultern und schob ihn zur Waschschüssel. „So jetzt aber schnell, waschen, anziehen und dann gehst du runter. Ich muss mich auch fertig machen, denn wir dürfen nicht zu spät kommen.“ Berthold wusch sich brav und zog seine Sachen an, die sie ihm hingelegt hatte. Als er endlich das Schlafzimmer verließ, setzte sie sich auf das Bett, sah sich um und prägte sich jede Kleinigkeit des Zimmers ein. Die weißen Schleiflackmöbel, die zart geblümte Tapete mit den blauen Bordüren, die weißen Vorhänge aus Musselin vor den beiden Fenstern, der dreiteilige Spiegel über der Frisierkommode und die beiden weißen Korbstühle mit den bunten Kissen. Dies war ihr zu Hause, hier war sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn so glücklich gewesen. In diesem Bett hatte sie Berthold geboren. Sie nahm Abschied und fühlte wie die Angst vor der ungewissen Zukunft in ihr aufstieg. Doch sie musste sich zusammenreißen, denn die Zeit drängte. Sie wusch sich ebenfalls und zog sich an. Die Uhr zeigte schon halb sieben, und sie hatte noch nichts gepackt und auch keine Ahnung, was sie mitnehmen, und was sie zurücklassen sollte. Also lief sie ebenfalls erst einmal in die Küche, und zwang sich, etwas zu frühstücken. Dann packte sie mit Theresas Hilfe, Proviant in einen Rucksack, Wäsche und Kleidung zum Wechseln, zweimal Besteck, flache Emailleschüsselchen als Teller und zwei Emaillebecher. In eine Reisetasche kamen dann noch zwei kleine Kissen und zwei Wolldecken.

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ott sei Dank war Sommer, so dass sie nicht frieren würden. Während sie ihre Papiere zusammensuchte, nähte ihr Theresa an der Nähmaschine einen breiten Gürtel aus Wachstuch, in den sie ihre Papiere und ihr Geld steckte. Den Gürtel trug sie unter ihrem Kleid. Berthold besaß auch einen kleinen Rucksack, in den er seinen Kuschelbären, ein paar Buntstifte und einen Zeichenblock steckte. Theresa steckte ihm noch ein Extratütchen mit Keksen hinein und eine kleinere Feldflasche mit Apfelsaft. Einen Regenumhang für beide noch in die Reisetasche, dann waren sie zum Abmarsch in eine ungewisse Zukunft bereit. Für Berthold war der Abschied von Hexie nicht leicht, Theresa musste ihm einige Male versichern, dass es seinem geliebten Hund an nichts fehlen würde, solange Berthold verreist war. Dann gab er ihr eine extra große Portion Futter, nahm sie noch einmal auf den Arm, drückte sein Gesicht in ihr Fell und sagt: „Auf Wiedersehen, Hexie, ich bin bald wieder da, du bleibst bei Oma Theresa.“ Hexie stürzte sich auf ihr Futter und Theresa umarmte Anna und Berthold noch ein letztes Mal, bevor die beiden das Haus verließen. Anna trug den Rucksack auf dem Rücken, in der einen Hand die Reisetasche, an der anderen Hand Berthold und ging ohne sich noch einmal umzusehen in Richtung Rathausplatz.

Die Uhr schlug acht vom Kirchturm, als sie den Platz erreichten. Er war voller Menschen, die von bewaffneten Polen bewacht wurden. In der Mitte des Platzes traf Anna die Frauen wieder, mit denen sie befreundet war seit sie sich vor den Russen im Jagdhaus versteckt hatten. Sie beschlossen, zusammen zu bleiben und sich gegenseitig zu helfen, so gut es möglich war.

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nna hoffte, Josef irgendwo zu sehen, aber sie entdeckte nur die beiden Männer, die morgens zusammen mit ihm vor ihrer Tür gestanden hatten. Sie lehnten an einem der Lastwagen, die offenbar für den Transport der Deutschen vorgesehen waren. Ein einziger war mit einer Plane überdacht, und an den schoben sich Anna und ihre Freundinnen mit ihren Kindern, unauffällig heran, damit sie schnell aufsteigen konnten, wenn es losginge. Denn der Gedanke, vielleicht stundenlang in der prallen Sonne auf einem offenen Lastwagen, eingequetscht zwischen vielen anderen Menschen, aushalten zu müssen, erschien ihnen schrecklich. Anna fiel voll Schrecken ein, dass weder sie, noch Berthold auf der Toilette gewesen waren.

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lso fragte sie den jüngeren der beiden Männer, die mit Josef vor ihrer Tür gewesen waren, ob sie mit ihrem kleinen Sohn vor der Abfahrt noch einmal die Toilette des Rathauses benützen dürfe? Doch der lachte nur, zeigte auf die Bäume und Büsche, die hinter dem Rathaus standen, und bedeutete ihr, sie könne mit Berthold dort hingehen. So unangenehm es ihr auch war, und sie hätte sich ohrfeigen können, dass sie zu Hause nicht daran gedacht hatte, sie ging mit Berthold hinter das Rathaus. Sie hockten sich hinter die Büsche, und trotz, oder gerade wegen der Aufregung, funktionierte die Verdauung bei beiden. Anna war sehr erleichtert, denn wer wusste schon, wie lange die Fahrt dauern würde, und ob sie unterwegs noch einmal die Gelegenheit zu einer Rast bekämen. „Mama, der Soldat beobachtet uns, guck mal, er hat einen Schmetterling über dem Auge,“ sagte Berthold leise zu ihr. Anna blickte zur Seite, und sah den jungen Polen, der auch vor ihrer Haustür gewesen war. Da er die blonden Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte, konnte man tatsächlich ein Muttermal in der Form eines Schmetterlings über seinem rechten Auge sehen. Er sah eigentlich sehr gut aus, war groß, schlank, hatte ein energisches Kinn und ausdruckstarke braune Augen. Doch starrten diese Augen Anna so bösartig und hasserfüllt an, dass sie schnell ihren Kopf abwandte. Sie langte mit einer Hand in Bertholds Rucksäckchen, dass dieser auf seinem Rücken trug, und holte den Zeichenblock heraus. Sie riss zwei Blätter heraus, zerknüllte sie, damit sie weicher wären, gab eines Berthold und nahm das andere für sich, zum abwischen.

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ie hatte aber auch an nichts gedacht. Natürlich hätte sie eine Rolle Toilettenpapier mitnehmen müssen. Vielleicht hatte ja eine der anderen Frauen zwei Rollen mitgenommen, und konnte ihr eine geben, für unterwegs. Wenn sie doch nur Josef sehen würde, er könnte ihr eine Rolle aus der Rathaustoilette holen. Sie zog schnell ihr Höschen hoch, ließ das Kleid wieder runter und half Berthold beim Anziehen seiner kurzen Hose mit Hosenträgern. Dann ging sie zu dem jungen Polen hin und fragte nach Josef. Er tat erst als könne er sie nicht verstehen, doch als sie nicht aufhörte Josefs Namen zu nennen, zeigte er auf den nächsten

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aum, nannte Josefs Namen, hob das Gewehr und schoss in den Stamm. Dann sagte er verächtlich: „Deitschen-Freind, Verräter, jetzt tot. Alle Verräter tot.“ Dann bedeutete er ihr und Berthold, wieder zurück zum Platz zu gehen. Und immer die Waffe auf sie gerichtet ging er hinter ihnen her bis sie bei den anderen waren.

Anna erinnerte sich jetzt, dass sie vom Gut her Gewehrschüsse gehört hatte, als sie mit Theresa und Berthold in der Küche gefrühstückt hatte. Theresa und sie hatten sich nur angesehen, und beide das gleiche gedacht: Der Gutsherr hatte immer gesagt, dass er sich eher erschieße, als seinen Besitz zu verlassen, eher wolle er vorher alles in Brand setzen und dann sich selbst erschießen, bevor er es den Russen oder Polen überlasse, sein schönes Gut. Ja, und da hatten Theresa, wie auch sie gedacht, dass es die Schüsse des Gutsherren seien, die sie hörten. Anna war der Schreck so in die Glieder gefahren, dass sie zitterte.

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erthold, den der Schuss des jungen Polen furchtbar erschreckt hatte, drängte sich dicht an Anna und fragte: „Mama, ist Opa Josef tot, hat ihn der Mann erschossen? Will er uns auch erschießen?“ Und er fing an zu weinen. Anna ging in die Hocke und legte ihre Arme um ihn: „Du musst jetzt ganz tapfer sein Berthold, denn wir dürfen diesen Mann nicht wütend machen, weil er ein Gewehr hat, und wenn er böse wird, kann es sein, dass er schießt. Bleib also immer dicht bei mir, an meiner Hand, dann passiert dir auch nichts.“ „Aber Opa Josef,“ fing er wieder an, und weinte weiter. „Werden sie Oma Theresa und meine Hexie auch erschießen? Sein Weinen wurde lauter. Anna presste ihn fest an sich: „Nein, Oma Theresa und Hexie haben sich versteckt, die finden sie nicht, hab keine Angst. Wenn wir aus Dresden zurückkommen, sind diese bösen Männer nicht mehr da, dann warten Oma Theresa und Hexie schon auf uns.“ „Wirklich Mama?“ „Ja, wirklich Berthold.“
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.11.2006