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In ihrem Kopf ging alles durcheinander. In den letzten Wochen, nach Kriegsende, hatte sie sich in trügerischer Sicherheit gewiegt, hatte geglaubt, dass jetzt diese schreckliche Zeit der Angst und Not hinter ihnen läge und gehofft, dass ihr Mann bald nach Hause käme und das Leben wieder so schön werden könnte wie vor dem Krieg.

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ie hatten den Einmarsch der Russen überlebt, indem sie sich bis Kriegsende in der Jagdhütte des Gutsherren versteckt hielten. Josefs Frau, Theresa, hatte sie mit Essen versorgt. Die Hütte lag weit vom Hauptwaldweg entfernt und die Abzweigung zu dem schmalen Zugangspfad hatten sie mit gefällten Baumriesen unpassierbar gemacht, nur wer sich gut auskannte, fand den Fußweg, der zu der Hütte führte. Aber er war so versteckt, dass sie vor den Russen sicher waren. Die meisten Bewohner waren damals mit ihrer wichtigsten Habe in den Westen geflüchtet. Aber da der Winter sehr kalt war und Berthold an einer Bronchitis litt, hatte sie es nicht gewagt, ihn den Strapazen einer Flucht auszusetzen. Und so war das Angebot der Gutsherrin für sie und die anderen Frauen die Rettung gewesen. Mit zehn Personen, vier Frauen und sechs Kindern, hatten sie vier Monate lang in der Jagdhütte gelebt.

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obei die Bezeichnung Hütte irreführend war, denn diese sogenannte Jagdhütte war ein solide gebautes großes Holzhaus mit einem Kachelofen im großen Wohnraum, zwei Schlafzimmern und einer Küche. Oberhalb des Hauses entprang ein kleiner Gebirgsbach, den der Gutsherr hatte so umleiten lassen, dass er einen großen Holztrog neben dem Kücheneingang füllte, sodass man immer genügend Wasser hatte. Den Kachelofen durften sie bei klarem Wetter leider nicht heizen, da der aufsteigende Rauch sie hätte verraten können. An solchen Tagen zogen sie alles, was sie an Kleidung hatten, übereinander an und verbrachten die meiste Zeit in den Betten unter den Federdecken. Dreimal in der Woche schlich sich Josefs Frau in der Abenddämmerung zur Jagdhütte und brachte ihnen etwas zu essen und vor allem Medikamente für die Kinder, die, bedingt durch die Kälte und Feuchtigkeit im Jagdhaus, ständig krank waren. Besonders Berthold hatte es schwer erwischt, er wurde seinen Husten nicht los und hatte oft Fieber. Und Anna war klar, dass er die Strapazen einer Flucht bei dieser strengen Kälte nicht überlebt hätte. Darum war sie sehr dankbar für dieses Versteck, auch wenn die Angst vor Entdeckung sie während der ganzen Zeit nicht einen Augenblick verlassen hatte.

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ls sie nach diesen Monaten dann endlich wieder zurück in ihr Haus konnte, war sie so glücklich gewesen. Das Haus hatte schrecklich ausgesehen, wie eine Müllhalde. Die russischen Soldaten hatten fast alle Vorräte aufgegessen, doch Kartoffeln, ein Fass eingelegtes Sauerkraut und ein halbes Fass eingelegter Gurken waren noch hinter einem Bretterverschlag im Keller versteckt.

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a die Russen genügend Schinken, Wurst, eingemachtes Obst und Marmelade vorgefunden hatten, waren sie nicht sehr gründlich bei der Durchsuchung des Kellers gewesen, doch den Weinkeller hatten sie leer geplündert. Und das schöne Meissner Porzellan war zum größten Teil zerbrochen. Ebenso die Kristallgläser. Der Wohnzimmerboden lag voller Scherben und die schönen alten Möbel waren stark ramponiert. Doch wenigstens stand das Haus noch. Anna fragte sich, wie Menschen es fertig bringen konnten, in nur vier Monaten aus einem gepflegten, schönen Haus einen solchen Schweinestall zu machen. Womit man mit dem Ausdruck „Schweinestall“ für dieses Chaos den Schweinen sicher unrecht tat. Mit der Hilfe von Josefs Frau war es ihr aber schnell gelungen, das Haus wieder bewohnbar zu machen.

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elch ein Glück, dass sie die Unterstützung dieser beiden tüchtigen und warmherzigen Menschen hatte. Josef hatte nur Gutes von den Deutschen erfahren, er war froh, hier in Deutschland arbeiten zu können. Er hatte auf dem Gutshof eine bevorzugte Stellung, in der er gutes Geld verdiente. Auch seine Frau, die als Köchin angestellt war, hatte ein gutes Gehalt. So dass die beiden in der Lage waren, sich in ihrem, nur wenige Kilometer entfernten polnischen Dorf, jenseits der Grenze, ein schönes Haus zu bauen. Trotz des Krieges war es ihnen nie schlecht ergangen, denn der Gutsherr hatte gute Beziehungen nach Berlin gehabt, und war so von den Anordnungen der örtlichen NPD unabhängig gewesen. Zumal ein ranghohes Mitglied des Führungsstabes um Hitler, oft als Jagdgast des Gutsherren eingeladen war und ganz besonders die Kochkünste Theresas geschätzt hatte. Theresas Kinder waren schon erwachsen, und gingen ihre eigenen Wege. Ihnen war es unangenehm, dass ihre Eltern für die „Deitschen“ gearbeitet hatten, und es immer noch taten. Sie hatten sich schon früh dem Widerstand gegen die Deutschen angeschlossen und darum den Kontakt mit ihren Eltern abgebrochen. Aus diesem Grund hatten Josef und Theresa den kleinen Berthold besonders in ihr Herz geschlossen und waren für ihn wie Großeltern. Annas Eltern lebten schon lange nicht mehr. Schon vor dem Ausbruch des Krieges waren sie bei einem Zugunglück ums Leben gekommen. Und ob die Eltern ihres Mannes noch lebten, wusste Anna nicht. Ihr Schwiegervater hatte in Dresden eine Arztpraxis und sie fürchtete, dass ihre Schwiegereltern bei der Bombardierung Dresdens umgekommen waren, da sie schon lange kein Lebenszeichen von ihnen erhalten hatte. Jedenfalls konnte sich Berthold kaum an seine Großeltern erinnern. Anna war froh, dass er in Josef und Theresa eine Art „Ersatz-Großeltern“ gefunden hatte.

Und jetzt mussten sie also fort von hier, in eine ungewisse Zukunft. Anna war so durcheinander, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Sie stand immer noch im Flur, hielt sich am Geländer des Treppenaufgangs fest und versuchte, Ordnung in das Chaos in ihrem Kopf zu bringen. Doch es gelang ihr nicht, das Entsetzen und die Angst lähmten sie. Da klopfte es leise an der Haustür, und sie hörte Theresas Stimme: „Frau Doktor, Frau Doktor, hören sie mich? Hier ist Theresa, bitte öffnen Sie, bevor mich jemand bemerkt.“ Sie öffnete schnell die Haustür, ließ Theresa herein und verschloss die Tür wieder hinter ihr. Theresa sah sie nur ganz bedrückt an, dann nahm sie Anna in ihre kräftigen Arme, hielt sie eine lange Zeit fest und sagte: „Keine Angst, Frau Doktor, wird sich bald alles wieder gut. Theresa hilft ihnen. Wenn sie erst werden sein im Westen, dann ist alles gut.“

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nna löste sich aus Theresas Armen, kämpfte mit den Tränen und fragte: „Glaubst Du das wirklich, Theresa?“ Theresa wandte sich ab, nein, sie glaubte es nicht wirklich, sie kannte den Hass ihrer Landsleute auf die Deutschen und sie hatte Angst um diese nette Frau Doktor und ihren kleinen Sohn. Und wer wusste schon, ob sie den Westen überhaupt erreichten, und selbst wenn, was sie dort erwartete? Aber jetzt war keine Zeit zu verlieren, sie mussten entscheiden, was mitgenommen werden sollte. Und sie wollte diesen beiden Menschen, die sie so in ihr Herz geschlossen hatte, noch ein kräftiges Frühstück machen. Wer weiß, wann sie wieder ein Dach über dem Kopf haben würden und etwas Gutes zu essen bekämen.

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ls sie gestern Abend von ihrem Mann gehört hatte, was heute mit der deutschen Bevölkerung passieren sollte, hatte sie schnell einige Schnitzel gebraten und eine große Dose Kekse gebacken. Der Sommer war schon sehr heiß, so dass sich Lebensmittel nicht lange halten würden. Und wegen des vorgeschriebenen Gewichts, konnten höchstens ein oder zwei Einmachgläser mit Fleisch und Wurst mitgenommen werden. Die Frau Doktor war eine zierliche, zarte Frau, es würde schwer für sie werden, mit dem kleinen Jungen an der Hand und dem Gepäck auf dem Rücken. „Gehen sie jetzt nach oben, Frau Doktor, machen sie sich und den Jungen fertig, in der Zwischenzeit macht ihnen Theresa ein ordentliches Frühstück und nachher werd ich helfen beim Packen. Überlegen sie, was sie werden mitnehmen.“ Anna nickte, schluckte schwer, sagte „Danke Theresa,“ und ging nach oben.

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erthold war wieder eingeschlafen, Hexie lag zu seinen Füßen auf der Bettdecke und schlief ebenfalls. Anna stand vor dem Bett und prägte sich dieses friedliche Bild ein. Ihr Sohn hatte die gleichen blonden, leicht gelockten Haare wie sie. Auch die zarte Statur hatte er von ihr. Ihr Herz tat ihr weh bei dem Gedanken, dass sie dieses unschuldige Kind aus seinen Träumen reißen musste. Wer wusste schon, welche Schrecken jetzt auf sie zukommen würden. Sie musste sich zusammenreißen und stark sein, für ihn. Sie würde über ihn wachen und ihn beschützen. „Bitte Herr,“ betete sie leise, „gib mir die Kraft und Stärke, und hilf mir, ihn vor allem Bösen zu bewahren.“ Dann tippte sie ihn leicht auf die Schulter, „Berthold,“ sagte sie, „Berthold, du musst aufstehen.“ „Aber es ist doch noch so früh, Mama, lass mich doch noch schlafen,“ murmelte er in sein Kopfkissen. Auch Hexie hob nur kurz ihren Kopf, reckte sich einmal und kringelte sich dann wieder zusammen um weiterzuschlafen. Als Anna aber die Decke zurückschlug, sprang sie erschrocken vom Bett. Und auch Berthold richtete sich widerwillig auf.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.11.2006