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Aber die großen Herren und Führer entzogen sich der Verantwortung durch Selbstmord, und die kleinen Leute, besonders die Frauen und Kinder, die am wenigsten Schuld hatten, mussten die Folgen dieses Krieges und die Vergeltungsmaßnahmen aushalten. Er, Sergej Potow, wollte nur noch nach Hause, und diese Uniform nie mehr tragen müssen.

Er betrat den Bahnhof, noch war niemand da, so lief er die Treppe hinauf zur Wohnung des Bahnhofsvorstehers. Als er die Wohnung betrat, sah er sofort die Frau auf dem Boden des Wohnzimmers liegen. Es war alles verwüstet, Flaschen lagen auf dem Boden und die Kleider der Frau zerrissen im Vorraum. Man brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was hier abgelaufen war. Vorsichtig beugte er sich zu der blutbeschmierten Frau hinunter, um zu sehen, ob sie noch lebte. Sie lag nackt und merkwürdig verrenkt da, aber als er einen Finger an ihre Halsschlagader legte, spürte er einen schwachen Pulsschlag. Schnell holte er ein Kissen und eine Decke aus dem Schlafzimmer, legte das Kissen unter ihren Kopf und breitete die Decke über den geschundenen Körper der armen Frau. Heiß stieg Zorn und Verachtung über die Männer, die so etwas taten, in ihm auf. Schnell verließ Oberst Sergej Potow die Wohnung, ohne noch an die Uhr, oder die Spielsachen für seine Kinder zu Hause, zu denken. Er wusste nur, er musste schnell handeln wenn diese Frau überleben sollte. Er rief seinen Fahrer zu sich und gemeinsam liefen sie wieder in die Wohnung. Sie wickelten die Frau in die Bettdecke ein und trugen sie gemeinsam hinunter in ihr Fahrzeug. Dort legten sie Anna auf den Rücksitz und fuhren zum Rathaus des Ortes, in dem auch eine Krankenstation des Roten Kreuzes untergebracht war. Sergej wusste nicht, warum es ihm so wichtig war diese deutsche Frau zu retten, auf jeden Fall wollte er sie nicht den Polen überlassen, denn es mussten Polen gewesen sein, die diese Frau fast umgebracht hatten. Denn er und sein Fahrer waren die letzten Russen, die noch hier waren. Seine Soldaten waren schon gestern abgezogen. Er wusste zwar, dass auch die russischen Soldaten schlimme Dinge getan hatten, als die Rote Armee in Deutschland einmarschiert war. Aber da war Krieg gewesen. Seine Soldaten hatten um ihr Leben gekämpft und die deutschen Angreifer erfolgreich zurückgeschlagen. Und sie hatten bei ihrem Einmarsch immer mit Heckenschützen und den Heimatfrontkämpfern der Deutschen rechnen müssen. Wer hinter jeder Ecke seinen nahenden Tod vermutet, reagiert nicht normal. Die aufgepeitschten Nerven verführen zu Überreaktionen und unnötiger Gewalt.

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och jetzt war der Krieg zu Ende und die Deutschen wurden aus dem Ostteil ihres Landes vertrieben, welches nach dem Willen der Siegermächte den Polen zustand. Warum mussten sie sich jetzt noch an Menschen, wie dieser armen, kleinen Frau, vergreifen. Sie war doch keine Gefahr gewesen. Nein, diese Männer die das getan hatten, waren nicht besser als Hitlers Schergen. Er traute den Polen nicht, sie würden diese Frau wahrscheinlich töten, damit sie keine Last mit ihr hätten. Es war seine Pflicht, sie in Sicherheit zu bringen. Trotzdem wollte er sich nicht als Richter über diese Männer aufspielen. Denn er hatte auch gehört, was die Deutschen mit den Polen gemacht hatten, als sie das Land überfallartig besetzt hatten. Wer wusste schon, welche persönlichen Demütigungen und schrecklichen Erlebnisse, diesen Hass in den Männern ausgelöst hatten. Und der Alkohol hatte die letzten Barrieren von Menschlichkeit weggespült.

Als sie am Rathaus ankamen, erwachte die kleine Stadt schon zum Leben. Zwei Schwestern öffneten die Fenster der Krankenstation, um die kühle Morgenluft herein zu lassen. Der Oberst winkte ihnen zu, und sie kamen heraus. Da sie kein Russisch sprachen, schickte er seinen Fahrer in das Hauptgebäude des Rathauses, um den Dolmetscher zu holen, der in den letzten Wochen, während seiner Zeit als Kommandant, für ihn übersetzt hatte. Anscheinend hatte sein Fahrer ihn aus dem Bett geholt, denn er zog während des Laufens noch seine Hosenträger hoch und war in Pantoffeln. Er war vor dem Krieg Lehrer für Deutsch und Russisch in Warschau gewesen.

Und er hatte Sergej immer wieder auf den Unterschied zwischen „den Deutschen“ und den „Nationalsozialisten Hitlers“ hingewiesen. Als ein begeisterter Goethe-Fan, hatte er Sergej manchmal Gedichte übersetzt. Jetzt musste er den Schwestern beibringen, dass sie dieser armen Frau erst einmal Erste Hilfe leisten und sie soweit versorgen mussten, dass sie eine längere Fahrt mit dem Auto überstehen würde. Denn Sergej hatte vor, sie möglichst noch heute in den Westen jenseits der Neiße zu bringen. Er wusste, dass in Görlitz ein großes Krankenhaus war, in dem man die Frau sicher besser behandeln konnte, als in dieser kleinen Station. Die Schwestern holten eine Trage und Sergej und sein Fahrer hoben Anna aus dem Wagen, legten sie vorsichtig drauf und trugen sie in das Gebäude. Mit Hilfe der Schwestern legten sie die immer noch bewusstlose Anna auf ein Bett. Nach kurzer Untersuchung und Beratung kamen die beiden Schwestern zu dem Schluss, dass diese Frau unmöglich transportfähig sei. Erst als sie erfuhren, dass Anna eine Deutsche sei, waren sie einverstanden, sie notdürftig zu versorgen, damit der Oberst sie in den Westen fahren könne. Denn wenn ihre Überlebenschancen bei einer solchen Fahrt auch gering waren, so meinten auch sie, dass sie hier in dieser, heute von den Polen zu übernehmenden Krankenstation überhaupt keine Chance habe. Sergej verabredete dann mit Hilfe des Dolmetschers, dass er in zwei Stunden wiederkäme, um Anna abzuholen.

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ann ging er in das Hauptgebäude des Rathauses, um den zukünftigen polnischen Ortsvorsteher zu treffen, und die formelle Übergabe der Verwaltung dieses Städtchens abzuwickeln. Was natürlich ohne einige Gläschen Wodka nicht abgehen würde. Außerdem musste er seine Sachen packen, die noch im Rathausgebäude waren, in dem er zwei Zimmer bewohnt hatte. Es war nicht viel, ein Koffer mit Wäsche und Kleidung, und einige Bücher. Schade, dass er jetzt die Uhr nicht mehr holen konnte, aber bestimmt war der neue Bahnhofsvorsteher schon eingetroffen, und bezog gerade die Wohnung.

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erthold wurde durch das Rattern eines Zuges wach. Er hatte geträumt, dass seine Mama mit ihm in der Kutsche von Onkel Josef nach Hause fuhr. Und gerade hatte ihn Hexie mit freudigem Gebell begrüßt, und Theresa hatte einen duftenden Apfelkuchen in den Händen, und winkte ihm, ins Haus zu kommen. Es war ein so schöner Traum, dass er schnell wieder die Augen zu machte, um weiter zu träumen. Aber es funktionierte nicht. Die Wirklichkeit wurde ihm bewusst. Er spürte wieder die Angst, hatte Heimweh und schreckliche Sehnsucht nach seiner Mutter. Er war kein mutiges Kind, eher ängstlich, aber sein Traum verstärkte seinen Entschluss, wieder zurück nach Hause zu gehen. Er musste nur unbedingt noch einmal an den Rucksack seiner Mutter, um sich den Regenumhang, eine Decke, die restlichen Schnitzel und Kekse, sowie die Apfelsaftflasche zu holen. Er schaute durch die Büsche in die Richtung des Bahnhofes, und da am Bahndamm niemand zu sehen war, schlich er sich vorsichtig in Richtung Bahnhof. Er wollte sich in den Büschen hinter dem Bahnhof verstecken, denn er hatte immer noch die kleine Hoffnung, seine Mama dort zu treffen. Und wenn sie nicht käme, bis es dunkel wurde, würde er ihr eine Zeichnung von ihrem Haus und von Hexie in den
Rucksack stecken, dann wüsste sie, dass er nach Hause gegangen war. Wozu hatte er schließlich seinen Zeichenblock und Buntstifte dabei. Diese Vorstellung machte ihm Mut, und er richtete sich auf und lief schneller am Bahndamm entlang. Er hatte gar nicht gewusst, dass er so weit gelaufen war in seiner Angst. Endlich sah er vor sich den Rucksack und die Tasche seiner Mutter. Aber sie selbst war nicht da. Er musste weiterschleichen, bis hinter den Bahnhof, von da aus konnte er den Rucksack sehen und wurde doch selbst nicht gesehen. Dann konnte er für Mama das Bild malen und wenn es dunkel war, und die Soldaten weg waren, würde er Wasser holen. Und dann endlich nach Hause gehen. Es gelang ihm auch, bis zu den dichten Büschen hinter dem Bahnhof zu kommen, ohne dass ihn jemand sah.

Er fing an zu malen, aß seine Kekse, trank seine Flasche Wasser leer und wartete auf die Dunkelheit. Dabei wurde das Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit immer stärker. Die Angst kam dazu und so konnte er nicht anders, er schluchzte in die Strickjacke, presste sie ganz fest an sein Gesicht, legte sich unter die Büsche und weinte sich in einen unruhigen Schlaf. Diesmal kamen keine schönen Träume, die Angst ließ ihn von bösen Soldaten träumen, die auf ihn schießen wollten, und er konnte nicht weglaufen. Seine Beine wollten einfach nicht. Er rief seine Mama um Hilfe und wachte von seinem eigenen Schreien auf. Er blickte sich verwirrt um, und es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder wusste wo er war und was er vor hatte. Inzwischen stand die Sonne schon hoch und es war sehr warm, trotzdem hielt er Annas hellblaue Strickjacke fest um seinen Hals gewickelt. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.11.2006