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Stilleben mit Wäschekorb - der Arbeitssaal ist längst Museum.

Ruhe bitte - hier wird gearbeitet

Fideles Treffen der ehemaligen Näherinnen im »Museum Wäschefabrik«

Von Matthias Meyer zur Heyde und Bernhard Pierel (Foto)
Bielefeld (WB). Bei der Arbeit durfte nicht gesprochen werden, Sprechen verbraucht unnötig Luft, grollte der Chef. Da haben die Näherinnen der Wäschefabrik Winkler eben gesungen: »Die Gedanken sind frei!«

»Wir hatten trotz allem viel Spaß miteinander«, versichert Gisela Strothmann (75), eine von zehn Damen, die sich gestern zum traditionellen Treffen der Ehemaligen im »Museum Wäschefabrik« eingefunden hatten. Bei Kaffee und Kuchen - von Museumsmitarbeiterin Karin Koenemann gebacken - wurden Erinnerungen an Nachkriegszeiten mit Lehrstellenmangel wach, an harte Stühle, die trotz zweier Kissen unbequem blieben, ans »Knopflöcher nücken« (umsäumen) und an einen Anfangslohn von 25 Mark (1948 - noch vor der Währungsreform).
»Manchmal war das hier wie in einer Flickerei: Die Leute brachten ein Hemd, aus dessen Rückenteil wir ein Stück Stoff schnitten und zu einem neuen Kragen verarbeiteten«, erzählt Erika Wendler (80). »In das Loch im Rückenteil wurde dann billiger Stoff eingenäht - unter Jacke oder Mantel sah man's ja nicht.« In jenen Tagen, als der Mangel kaum auffiel, weil jeder unter ihm litt, verwandelte sich unter den kundigen Händen der Schneiderinnen altes Tuch in BHs, in Nachthemden und Trikotagen. »Ich seh noch heute sofort, welches Hemd aus dem Ausland stammt«, erklärt Erika Wendler. »Technisch sind die nicht mal so weit wie wir damals schon. Kappnaht statt ketteln - pfhhh!«
»Seht mal, hier hängt ja ein Baby Doll«, ruft die ehemalige Lehrlingsausbilderin Helga Kramm (66) beim Rundgang durch die alte Wirkungsstätte. »Aber kein schönes - der Stoff ist viel zu dick. Wir haben hauchzarte genäht, ganz durchsichtig . . .« Und dann blinzeln die Rentnerinnen kokett, die - jedenfalls nach Auskunft von Museumsmitarbeiterin Heidrun Großjohann - gerne geheiratet wurden. »Zu unserer Zeit musste ein Mädchen einfach nähen können«, erinnert sich Edith Grefe (71).
Nähmaschine an Nähmaschine, nicht das beste Licht, manchmal nur 13 Grad im Saal, und ewig kann man auch nicht singen. »Wenn wir Inletts genäht hatten, ging's hinauf auf den Dachboden, da kamen die Federn rein. Eigentlich eine unbeliebte Arbeit wegen des Staubs, aber wir waren wenigstens zeitweise unbeaufsichtigt«, sagt schmunzelnd Christel Heidemann (66). Eine Näherin fertigte meistens ein Teil komplett allein, aber es gab auch Akkord zu viert.
Der »kleine Chef«, das war Theodor Winkler (der »lange Chef«, der Bruder, hieß Georg Winkler), der eigenen Angaben zufolge nach einem Unfall im Kindesalter kaum noch gewachsen war, überwachte streng das Arbeitspensum. Täglich von 7.30 bis 16.15 Uhr, in der Vorweihnachtszeit gerne bis 20 Uhr, sechs Tage die Woche - »wehe, eine verschwand kurz vor Feierabend noch mal auf die Toilette!« Manch eine - wie Erika Zöllner (79) - traute sich kaum zur Krankmeldung ans Telefon, andere waren resoluter: »Wir haben uns nicht alles gefallen lassen«, versichert Gisela Strothmann.
»Ich hab mir mal, weil die Schutzabdeckung fehlte, an elektrischen Kontakten den Finger böse verbrannt«, berichtet Waltraud Zwickies (65). »Das war ein langer Weg zur Apotheke - ein Erste-Hilfe-Kasten existierte ja nicht, nicht mal Pflaster war vorhanden.«
Aber alles in allem: Schön war's doch, findet Anita Düwel (73): »Wie oft haben wir vor Lachen buchstäblich unter der Nähmaschine gelegen.«

Artikel vom 16.11.2006