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Nichts verstanden - aber viel gelernt
Wie Gustav Langenscheidt vor 150 Jahren fremde Sprachen für Geschäftswelt und Bildungsreise erschloss »Es ist ein wahrhaft peinliches Gefühl, unter Menschen nicht Mensch sein und seine Gedanken austauschen zu können.«
Gustav Langenscheidt war sprachlos. Der Urvater der in fast jedem Bücherschrank präsenten gelben Wörterbücher mit dem großen blauen L wanderte 1849/50 quer durch Europa. Dabei gewann er, wie er schrieb, »fast alle Trinkwetten«, verstand aber allzu oft kein Wort. Der Wanderbursche erfuhr am eigenen Leibe, was den frühen Bildungsreisenden jener Zeit am meisten fehlte: praktische Sprachkenntnisse für den Alltag.
In seinem Tagebuch beschreibt der damals 17-Jährige, wie er zwischen 1849 und 1850 zu Fuß durch Europa reiste und die Erfahrung machte, dass es nicht nur politische, sondern auch reichlich sprachliche Grenzen gab. Die Vermutung liegt nahe, dass die Idee, 1856 einen eigenen Verlag zu gründen, auf dieser Tour entstand.
Die Reise begann im Herbst 1849 in Berlin, sie führte ihn durch Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien, die Schweiz, Italien, Österreich sowie das heutige Tschechien und Polen. Auf seinem Weg begleiteten ihn Aufbruchstimmung und Heimweh gleichermaßen. Staunend erkundete er auf seiner Wanderung die Vielfalt der Sprachen, Sitten und Gebräuche. Seine Reise lässt die Erkenntnis reifen, dass es die Sprache ist, die Menschen miteinander verbindet. Die Klage, es sei ein wahrhaft peinliches Gefühl, unter Menschen seine Gedanken nicht austauschen zu können, notierte der junge Langenscheidt, nachdem er in London in ein Freudenhaus geraten war. »Good Beds« stand da geschrieben, vertraute er seinem Tagebuch an. Allein fehlende Sprachkenntnis hätten ihn auf die falsche Fährte geführt, heißt es auch in seinem zum Jubiläumsjahr vertonten Reisetagebuch.
Mehr als Englisch vermisste der Euro-Tramp damals Französisch-Kenntnisse. Zurück in Berlin, ging er als Schreiber zum Militär. Das Erlebte veranlasste ihn, nebenbei einen Selbstlernkurs für Jedermann zu entwickeln. Fernab didaktischer Vorbildung setzte der von eiserner Disziplin geprägte junge Mann auf das Pauken von Vokabeln.
Die richtigen Worte zur Hand zu haben, war schon damals wichtigste Voraussetzung, um im Ausland »durchzukommen«. Als Verbündeten gewann der 22-jährige Langenscheidt seinen ehemaligen Französischlehrer Charles Toussaint.
Selbst die ungewohnte Aussprache ging der Berliner preußisch an: Toussaint musste ihm die französischen Wörter immer wieder ganz langsam vorsprechen, bis der Brigadeschreiber die Vokabeln in einer eigenen Lautschrift zu Papier brachte. Der aus einer Handwerkerfamilie stammende Autodidakt entwickelte die »Methode Toussaint-Langenscheidt« schließlich zur Marktreife, fand aber keinen Verleger, der diese Fleißarbeit auch drucken wollte.
Wohlwissend um die sprachlichen Nöte seiner Zeitgenossen außerhalb der deutschen Lande wagte Langenscheidt am 1. Oktober 1856 die Gründung eines eigenen Verlages. Seine »Unterrichtsbriefe für die französische Sprache« erschienen fortan im Selbstverlag - und wurden zu einer 150-jährigen Erfolgsgeschichte.
Aus dem lebensfrohen Bildungsreisenden wurde ein besessener Tag-und-Nacht-Arbeiter: Morgens um 2 Uhr begann sein Tag am Schreibtisch, um 9 Uhr früh ging er zu Bett, um dann um 14 Uhr seinen zweiten Turn aus sieben Stunden Arbeit und fünf Stunden Ruhe/Muße zu absolvieren. Selbst am Sonntag wurde exakt fünf Stunden geschafft. Langenscheidts Anleitung »Die Kunst, geistig zu arbeiten« war geprägt von Zeitmanagement und der Warnung vor dem gemeinen »Zeitvertrödler«, für den seine Sprachkurse wahrlich nicht geeignet seien, wie er offen bekannte.
Schon im dritten Geschäftsjahr folgte 1858 die überarbeitete Neuauflage seines Französisch-Kurses, auch sie ein Geschäftserfolg. 1862 folgten die ersten englischen Sprachbriefe, eine Entscheidung, die sich als sehr viel zäheres Unterfangen erweisen sollte. Englisch war (noch nicht) Weltsprache. Bis 1865 fuhr Langenscheidt 4400 Taler Verlust ein. Für den neun Jahre später zum Professor erhobenen Pädagogen eine Katastrophe, für den Kaufmann akzeptabel, denn mit der französischen Ausgabe erzielte er im gleichen Zeitraum 20 000 Taler Gewinn.
Das erste echte Wörterbuch - natürlich für Französisch - wurde 1863 in Angriff genommen. Kalkuliert für das Verzeichnis (erstmals mit Lautschrift) waren drei Jahre - es dauerte fast sechsmal so lange. Carl Sachs und Césare Vilatte arbeiten 17 Jahre an 4000 Seiten, die 1880 erstmals erschienen und 1900 im 125. Tausend gedruckt wurden.
Fast zeitgleich ließ Langenscheidt ein enzyklopädisches Wörterbuch für die englische Sprache entwickeln. Seine Autoren Eduard Muret und Daniel Sanders sind heute noch ein Begriff. Als der »Muret-Sanders« 1901 endlich erschien, war Gustav Langenscheidt bereits sechs Jahre tot. Jetzt führte sein jüngster Sohn Carl das Unternehmen.
1903 kamen die echten Taschenwörterbücher, wenngleich ihr gelber Einband mit einem großem blauen »L« erst 1956 zum 100-Jährigen erfunden wurde. 1912 erschienen Metula-Sprachführer für 34 Sprachen. 1924 kamen »Langenscheidts Handbücher der Handelskorrespondenz« hinzu, 1930 »Langenscheidts Universal-Wörterbücher«. 1932 erschien das erste Lehrbuch für den Schulunterricht.
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Berliner Verlagsgebäude vernichtet wie der größte Teil der wertvollen Redaktionsunterlagen. Karl Ernst Tielebier-Langenscheidt, geboren 1921, der heutige Seniorverleger, leitete den Wiederaufbau und begann mit der Internationalisierung. Sein Sohn Andreas Langenscheidt, seit 1981 im Unternehmen, setzte die Strategie fort und baute Langenscheidt zu einer internationalen Verlagsgruppe aus. Weltweite Anerkennung sicherte sich das Traditionshaus 1983 mit dem »alpha 8 Englisch«, das als erstes elektronisches Wörterbuch wiederum Mediengeschichte schrieb. Reinhard Brockmann

Artikel vom 02.12.2006