02.12.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Gewaltfrei und erleuchtend
Über ein indisches Motorrad mit dem irreführenden Namen »Geschoss«
»Mehr, mehr!« Nicht nur der kleine Häwelmann in Theodor Storms Kinderbuch-Klassiker kann nicht genug bekommen.
Mehr, mehr! Wer über die Kölner »intermot« gestiefelt ist, weiß: Bei den Motorrädern kennt die Leistungsexplosion schier keine Grenzen. Doch Moment! Einen Hersteller gibt's da noch. Konsequent hält er sich an die selbstauferlegte Beschränkung auf höchstens 23 PS / 17 kW, keines der bildschönen Zweiräder soll schneller als 120, na ja, 130 fahren. Eine Fünfgang-Schaltung links (statt Viergang-rechts) ist der gehobenen Version vorbehalten, ein Elektro-Starter und Scheibenbremse vorn sind der ultimative Luxus.
Ja, es ist ein echtes Geschoss, was da aus Indien kommt - und auf dem westlichen Motorrad-Markt der Eitelkeiten immer mehr Freunde findet. Deshalb heißt es auch Bullet. Royal Enfield Bullet. So wie seine Ahnen, die in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in England ausstarben. Der Name aber blieb. Und so ist Royal Enfield, anno 1901 mit der ersten Maschine am Markt, heute die älteste noch gebaute Motorradmarke.
Die Blaupausen der Baupläne hatten schon in den 50ern (ganz legal) den Sprung in Gandhis Land geschafft, wo sie, in Madras, gepflegt und weiter nach ihnen traditionelle englische Motorräder gebaut wurden. Sehr traditionelle. Also Einzylinder-Viertakt. Über all die Jahre und Jahrzehnte. Belächelt von Kawasuki, Yamahonda und allen, die Indien für rückständig hielten.
Während dort wohl eine Million der Eintöpfe die Montagehallen verließen, um den indischen Markt zu versorgen, verlangten im Westen allenfalls noch anglophile Freaks nach der Bullet, als im Royal-Mutterland der Motorradbau kurz vorm Totalaussetzer stand. Und jetzt, wo India mit Bollywood und Big Business allgegenwärtig ist, Stahl und Software vom Subkontinent die Welt beherrschen? Da verkörpert Royal Enfield, Made in Chennai (wie Madras heute heißt), beinahe schon die guten alten indischen Tugenden à la Mahatma.
Die Bullet zieht, ihrem Namen zum Trotz, gewaltfrei ihre Bahnen zwischen den japanischen und europäischen Muskelprotzen. Ist genügsam bei der Anschaffung, frisst kaum und ist auch modisch vermutlich noch die kommenden 80 Jahre unantastbar. Und für alle, die im Sattel der Bullet sitzen, geht's nicht um Fahrphysik und Grenzbereich, sondern um Philosophie, Meditation, ja Erleuchtung.
Für dergleichen Höhenflüge reicht dem einen bereits die puristische Bullet 350 (15 PS) zum (derzeitigen Aktions-) Preis von einem weniger als 3000 Euro. Mancher deutsche Händler wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass es sich dabei tatsächlich um ein nagelneues Motorrad handelt.
Der andere braucht möglicherweise das Spitzenmodell Bullet Electra (derzeit knapp 5000 Euro) oder einen der gefälligen Umbauten wie den 60er-Jahre Renner Continental, den Scrambler oder die, nun ja, Harley-Persiflage namens Highway Cruiser, um inneren Frieden zu finden.
Selbst ein Bullet-Gespann ist möglich. Keine Frage, der Importeur ZMT (Zülpicher Motorradtechnik) und die auf gut 100 angewachsene Zahl von Händlern in Deutschland sind zu fast allem bereit, um per Bullet-Zubehör auch die Persönlichkeit des Motorradbesitzers zu unterstreichen. Wobei das ja eigentlich überhaupt nicht nötig ist. Denn das Geschoss aus Indien, soviel ist gewiss, stiehlt schon im Urzustand allen anderen die Show. -ist-
www.zmtgmbh.de

Artikel vom 02.12.2006