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Angela Merkel

»Nach einem Jahr gemeinsamen Regierens sind wir jetzt in einer soliden Normalität angekommen.«

Leitartikel
Ein Jahr Große Koalition

Der Bürger
und sein
feines Gespür


Von Dirk Schröder
Vor einem Jahr haben sich Union und SPD unter dem Druck des Wählervotums zu einer Großen Koalition zusammengerauft. Am 18. November 2005 wurde der Koalitionsvertrag unterschrieben. Vor zwölf Monaten gab es nicht wenige, die überzeugt waren, dass diese Konstellation die vierjährige Legislaturperiode nicht überstehen wird.
Es sieht in diesen trüben Novembertagen zwar nicht danach aus, als sollten sich diese Befürchtungen schon bald bewahrheiten. Über den Berg ist dieses Bündnis aber noch lange nicht. Anfänglich überraschte schon die nicht erwartete, manchmal auch übertrieben dargebotene Harmonie. Auch heute ist dieses Bemühen noch erkennbar, wenn auch nicht mehr so intensiv. Man ist aufeinander angewiesen, weiß, dass man nur gemeinsam Erfolg hat. Doch die Kratzer, die dieses Bild mittlerweile abbekommen hat, sind nicht mehr zu übersehen.
Das belegt auch die Zwischenbilanz nach einem Jahr, die von den Koalitionären verständlicherweise positiv dargestellt wird: Man habe eine Menge auf den Weg gebracht, meint beispielsweise SPD-Fraktionschef Peter Struck. Doch so berauschend fällt diese Bilanz nun doch nicht aus. Erfreulich sind der gegenwärtige Aufschwung, der Rückgang der Arbeitslosigkeit und die Steuerentwicklung. Aber dies können sich CDU, CSU und SPD nicht allein auf ihre Fahnen schreiben.
Nachdenklich sollte die Koalitionäre schon die Einschätzung der Wähler machen. Anfänglicher breiter Zustimmung ist Ernüchterung gewichen. Vor einem Jahr fanden es noch 59 Prozent gut, dass Union und SPD ein Bündnis geschmiedet haben, heute sind es nur noch 36 Prozent. Und 40 Prozent der Bundesbürger sind laut ZDF-Politbarometer gar der Meinung, die Große Koalition sei schlecht für das Land. Ein feines Gespür für die Entwicklung im Land kann man dem Wähler nun wirklich nicht absprechen.
Nach einem Jahr gemeinsamen Regierens sei die Koalition in der Normalität angekommen, zieht Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr Fazit. Was Normalität bedeutet, zeigen die (Noch-)Volksparteien bei der Gesundheitsreform. Beide Seiten versuchen, möglichst viel von ihren Positionen durchzubringen. Das kann nicht gutgehen. Niemand ist bereit, auch nur einmal über seinen eigenen Schatten zu springen. Herausgekommen ist eine höchst umstrittene Reform, die bereits wieder reformbedürftig ist, bevor sie überhaupt verabschiedet ist.
Nach einem Jahr ist klar: Als großem Reformmotor fehlt es dieser Koalition an den nötigen PS. Nicht zu übersehen sind die Annäherungsversuche der CDU an die Grünen, und die SPD liebäugelt ja schon einige Zeit mit den Liberalen.
Im nächsten halben Jahr wird jedoch nichts passieren. Während der EU-Ratspräsidentschaft will man nicht nur nach außen glänzen, sondern auch nach innen Harmonie demonstrieren. Danach aber beginnt wieder der Alltag.

Artikel vom 14.11.2006