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Kompromisse mit der Türkei kontraproduktiv

Denkstrukturen und Verhaltensmuster sind mit Gesetzen und Verordnung nicht zu verändern


Zum Thema EU/Türkei:
Am 8. November 2006 wurde der jährliche »Fortschrittsbericht« der EU-Kommission zur Türkei vorgestellt. Die Kommission beklagt hierin die fehlende Umsetzung zivilgesellschaftlicher Reformen, also die Verlangsamung des Reformprozesses. Auch sei die Türkei bislang ihrer Verpflichtung in der Zypernfrage nicht nachgekommen, die Verbesserung der Meinungsfreiheit ebenfalls nicht erfolgt. Der Paragraph 301, mit dem unter anderem die »Herabsetzung des Türkentums« verfolgt werden kann, ist für die EU nicht akzeptabel.
Hier liegt meines Erachtens das Grundsatzproblem, das den Beitritt der Türkei zur EU so schwer macht. Denn: So wie Muslime in erster Linie eine politische Rechtsgemeinschaft sind, die sich in zweiter Linie religiös versteht, so verstehen sich die Türken primär als eine ethnische Gruppe, die sekundär eine Religion hat, auf Türken trifft beides zu. Jahrhundertealte Denkmuster, die uns zum Teil noch an archaische Clansitten und Gebräuche erinnern, haben breite Bevölkerungsschichten vor allem außerhalb der Großstädte geprägt. Zudem haftet Kemal Atatürks dem »Türkentum« seit der Zeit ein empfindlicher Nationalstolz an, der sich jetzt in einem wiedererstarkenden Nationalismus zeigt.
Diese Entwicklung läuft den Vorstellungen der EU-Staaten aber diametral entgegen. Die bestehenden Denkstrukturen und Verhaltensmuster sind mit Gesetzen und Verordnungen auf Dauer nicht zu verändern, zumal das alles offenbar auf Druck der EU und nicht aus eigener Einsicht geschieht. Das macht es der Regierung in Ankara auch so schwer, die Bevölkerung für die Reformen zu gewinnen. Für das Funktionieren eines politischen Gebildes wie die EU ist ein Regelvertrauen als tragfähige Basis aber unerlässlich, so lässt sich das nur schwer schaffen.
Dass die Reformen nicht vorangehen, hängt natürlich auch mit dem unverständlichen und wachsweichen Verhalten der EU zusammen. Immer wieder werden Kompromisse angeboten, Vorschläge gemacht, die angeblich beide Seiten akzeptieren könnten. Wieso eigentlich besteht man nicht auf strikter Erfüllung der Verpflichtungen? Kompromisse sind dabei nicht erforderlich, ja, sogar kontraproduktiv.
Nun hat der SPD-Vorsitzende Kurt Beck in Kenntnis dieser Lage in seiner außenpolitischen Grundsatzrede wieder nachdrücklich den Beitritt der Türkei zur EU gefordert. Die These von einem bevorstehenden Kulturkampf könne »durch die Integration eines mehrheitlich muslimischen Landes in die europäische Wertegmeinschaft deutlich widerlegt werden«, meint er.
Weiß Beck eigentlich, wovon er redet? Schon die Integration von 1,8 Millionen Türken in Deutschland ist doch ein großes Problem. Denn in weiten Teilen haben wir es hier mit Kulturkolonien zu tun, die sich als bewusst türkisch abgrenzen und vernetzen.
In der Türkei selbst steigt die Bevölkerungskurve schnell. Von derzeit bereits 72 Millionen wird sie im Jahr 2025 knapp 100 Millionen erreicht haben. Wie will der SPD-Vorsitzende diese dann in der EU größte Bevölkerungsgruppe mit deutlich anderem kulturellen Hintergrund und schwacher Volkswirtschaft in das europäische Wertesystem eingliedern?
Wenn es aber nach unseren Politikern geht, dann werden die wahrscheinlich schon gar nicht mehr »ergebnisoffenen« Beitrittsverhandlungen trotz allem auf Biegen und Brechen weitergehen. Die Dynamik dieses Prozesses wird in die Aufnahme der Türkei münden.
Ich meine, dass der Bielefelder Gesellschaftshistoriker Prof. Hans-Ulrich Wehler recht hat, wenn er sagt: »Wenn die Türkei der EU beitreten sollte, dann werden euch Hören und Sehen vergehen.«
EGON A. BUCHHOLZ32049 Herford

Artikel vom 25.11.2006