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Auf den Spuren der
Nibelungensage

In Worms wurde Geschichte geschrieben

Von Thomas Albertsen
»Worms du hoher Ehren wert, Freude sei Dir stets beschert.« Man sagt, Worms habe einst mit Paris um die Zahl der Häuser und Kirchtürme konkurriert. Und in der Tat steht der im 12. Jahrhundert erbaute Dom Kirchen wie Notre-Dame und Sacré Coeur in nichts nach.

Es wurde auch Kirchengeschichte in Worms geschrieben: Martin Luther stand hier 1521 vor Kaiser und Reich, um seine umstrittenen Thesen zu rechtfertigen. Reichs- und Hoftage verzeichnet die Wormser Chronik. Schon vor dem Auftauchen des Reformators war die Stadt in die Annalen eingegangen, als 1122 der Investiturstreit geschlichtet wurde. 1495 leitete Kaiser Maximilian dort die Reichsreform ein.
Doch ausgerechnet jene Geschichte, derer sich Worms am meisten rühmt, wird nun von Wissenschaftlern völlig neu gedeutet. Einer von ihnen ist der Wiener Germanist Otto Höfler, der freilich seit den 1960er Jahren an dieser These herumdoktort. Die 2400 Strophen umfassende Nibelungensage, das deutscheste aller Heldenepen, soll in Wahrheit auf die Vernichtung der römischen Varus-Legionen durch »Hermann den Cherusker« bei Kalkriese am Teutoburger Wald zurückgehen.
Ist Held Siegfried eben jener tapfere Krieger, der heute noch auf dem Hermannsdenkmal bei Detmold steht? Arminius nannten die Römer ihren übermächtigen Gegner, die Deutschen machten »Hermann« daraus -Êdoch die Mitglieder der cheruskischen Königssippe führten mehrheitlich die Vorsilbe »Segi« (Sieg) im Namen.
Dazu kommt, dass der Nibelungenschatz, den Hagen von Tronje am Wormser Rheinufer - heute zu Metall erstarrt -Êin den Fluss wirft, identisch sein soll mit dem Hildesheimer Silberschatz. Der Magdeburger Professor Walter Schuhr betrachtet den größten nördlich der Alpen gefundenen antiken Edelmetallschatz jedenfalls unter diesem Aspekt. Das Rheingold -Êdie gesammelte Kriegsbeute der Germanen?
Wenn ein Magazin wie der »Spiegel« diese gewagte These zur Titelstory erhebt, muss etwas dran sein - zumal Redakteure spätestens seit den gefälschten Hitler-Tagebüchern besonders sensibel sind, wenn irgendjemand die Geschichte in weiten Teilen neu schreiben will. »Diese konstruktivistische Sichtweise, Geschichte aus Modulen zusammenzusetzen und daraus neue Schlussfolgerungen zu ziehen, ist durchaus reizvoll«, sagt Olaf Mueckain vom Nibelungsmuseum.
Auch er kann sich der Faszination der möglichen historischen Personalunion nicht entziehen. Dennoch sei die Zeit noch lange nicht reif, das 2001 eröffnete Museum schon wieder umzugestalten. Dort werden die Besucher von Mario Adorf durch ein »begehbares Hörbuch« geleitet und mit Bildsequenzen aus dem Nibelungen-Film von Fritz Lang konfrontiert. Adorf berichtet in der Person des unbekannten Dichters, der das Nibelungen-Epos verfasste, vom Helden Siegfried, seinen Interpretationen und auch dem Missbrauch im Dritten Reich. Im »Sehturm« wird das Gehörte visuell unterstützt, dann geht es auf einem Stück der restaurierten Stadtmauer wie auf einem Zeitstrahl zurück in die Ursprungszeit der Dichtung, und man lauscht im Hörturm dem mittelhochdeutschen Original des Epos, steigt sodann in luftige Höhen, um das heutige Worms zu betrachten. Im Keller schließlich darf der Nibelungenschatz entdeckt werden - als interaktive Videoinstallation.

Artikel vom 14.11.2006