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Wort zum Sonntag

Heute von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann

Hans-Jürgen Feldmann in Pfarrer im Ruhestand.

Auf dieses Wochenende fallen vier Gedenktage ganz unterschiedlicher Art. Am populärsten ist inzwischen der heutige 11. November geworden, der Todestag des heiligen Martin. Von ihm hören bereits die Kinder im Kindergarten und in der Grundschule und freuen sich auf die abendlichen Laternenumzüge als erste Höhepunkte der beginnenden dunklen Jahreszeit.
Zur Lichtgestalt wurde Martin, 316/317-397, der spätere Bischof von Tours, durch eine im Kern wohl historisch verbürgte Legende: Noch als römischer Legionär habe er an einem eiskalten Winterabend vor den Stadttoren von Amiens seinen Soldatenmantel mit dem Schwert durchtrennt, um die eine Hälfte davon einem frierenden Bettler zu schenken. In der Nacht darauf sei ihm Christus, angetan mit dieser Mantelhälfte, erschienen, und habe ihn, Martin, die Worte des Evangeliums vernehmen lassen: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Matth. 25, 40).
Im vordem evangelisch geprägten Ravensberger Land waren solche Martinsumzüge vor wenigen Jahrzehnten noch völlig unbekannt. Statt dessen gab es das Martin-Luther-Singen am Abend des 10. November. Dabei gingen die Kinder in ihrer Nachbarschaft von Haus zu Haus, um von den Erwachsenen Äpfel, Pfeffernüsse und andere Süßigkeiten zu erbitten. Denn am 10. November 1483 war Martin Luther in Eisleben geboren und bereits tags darauf - daher die zeitliche Verbindung - auf den Namen des heiligen Martin von Tours getauft worden. Der Brauch, an seinem Geburtstag singend umherzuziehen, erinnert außerdem daran, dass die damals häufig in fremden Städten lebenden Gymnasiasten, die »Lateinschüler«, zu ihrem Unterhalt durch gruppenweises Kurrendesingen beitragen mussten.
Eine zunächst traurige Berühmtheit sollte der 9. November erlangen. Denn an diesem Datum gingen 1938 jüdische Gotteshäuser in Flammen auf, und jüdisches Eigentum wurde beschädigt, ohne dass die Sicherheits- und Ordnungskräfte dagegen einschritten oder überhaupt etwas unternahmen. In Anklang an zerbrechendes, klirrendes Glas prägte die nationalsozialistische Propaganda dafür den Begriff »Reichskristallnacht«. Das Ereignis macht es unglaubwürdig, wenn später nur zu gern behauptet wurde, von den Verbrechen an den Juden angeblich keine Ahnung gehabt zu haben. Manche indessen hatten das Zeichen der Zeit damals durchaus sehr wohl erkannt. Dafür steht die Aussage eines als Sonderling geltenden Dresdners, der beim Brand der von Gottfried Semper erbauten Synagoge in düsterer Vorahnung gesagt haben soll, dieses Feuer kehre eines Tages dorthin wieder zurück, von wo es ausgegangen sei.
Ganz anders als der 9. November 1938, ein Tag der Schande, ist der 9. November 1989 in die Geschichte eingegangen. Auf ihn können wir Deutsche mit Freude, Stolz und Dankbarkeit zurückblicken: An jenem Datum wurde noch vor Mitternacht die Berliner Mauer geöffnet, und die bis dahin eingesperrten Bürger Ostberlins konnten zum ersten Mal ungehindert den Westen der geteilten Stadt betreten. Es gab Umarmungen, Sektkorken knallten, und es flossen Freudentränen. Damit war das Ende der DDR eigentlich schon besiegelt und die Wiedervereinigung nur noch eine Frage der Zeit.
Daß es soweit kommen konnte, hätten die meisten selbst wenige Wochen zuvor noch nicht für möglich gehalten. Unterschiedliche Faktoren haben dazu beigetragen, nicht zuletzt die Tatsache, dass die Demonstranten besonnen und friedlich blieben. Vielleicht war das so, weil viele von ihnen zuvor an Friedensgebeten teilgenommen hatten. Aber auch die andere Seite hatte wohl ihre Lektion begriffen und ließ - keineswegs selbstverständlich, eher unerwartet - die Waffen schweigen. Die Ereignisse von 1989 tragen wunderhafte Züge: Was als unwahrscheinlich gilt, geschieht, und ein Volk wird nicht ein für allemal auf seine unheilvolle Vergangenheit festgelegt, sondern darf neu beginnen.

Artikel vom 11.11.2006