09.11.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Kinder trommeln bei
Bach auf dem Bauch

Wiener Philharmoniker kopieren Konzept aus Detmold

Von Dietmar Kemper
Detmold (WB). Spätestens nach einer Stunde klassischer Musik läuft bei Kindern die Aufmerksamkeits-Uhr ab. »Um den Nachwuchs zu erreichen, muss Musik verstümmelt, müssen Wiederholungen weggelassen werden«, betont Joachim Thalmann.

Bei dem weltweit ersten Kongress zur »Qualität von Konzerten für Kinder« von heute bis Sonntag in Detmold spricht der Musikwissenschaftler der lippischen Hochschule über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit und die Konsequenzen, die sich daraus für die Dramaturgie ergeben. »Es gilt Aktivpausen in die Konzerte einzubauen, in denen die Kinder malen, tanzen oder Schlagzeug auf ihrem Bauch spielen«, sagte Thalmann gestern dieser Zeitung. Darüber hinaus müsse an die Lebenswelt der Jungen und Mädchen angeknüpft werden: Warum nicht Helme verteilen und ein Konzert »Auf der Baustelle« nennen, wenn ein Pianist mit einem Hammer auf die Tasten klopfe?
Vor allem Kinder wollten Bilder im Kopf, wenn das Orchester zu spielen beginnt. Thalmann würde etwa bei Mahlers 1. Sinfonie Erwachsenen und Kindern die Vorstellung vorschlagen: »Die Streicher klingen so, als würde man mit blinzelnden Augen in die Sonne schauen.« Weil das Interesse an klassischer Musik bei Kindern und Jugendlichen seit Jahren abnehme, herrsche bei Orchester hektische Betriebsamkeit und Unruhe. Es reiche aber nicht, noch häufiger »Peter und der Wolf« oder »Karneval der Tiere« zu spielen - neue ungewöhnliche Wege seien gefragt. Wie die aussehen können, darüber diskutieren an der Musikhochschule 100 Musiker, Lehrer, Wissenschaftler und Konzertpädagogen aus ganz Deutschland. Sie wollen klären, wann ein Kinderkonzert gut ist und was sich von Museums- und Theaterpädagogen lernen lässt.
Die Musikhochschule Detmold legte vor drei Jahren die Konzertreihe »Concertino Piccolini« auf und landete damit einen großen Erfolg. Für die sechs Konzerte der aktuellen Saison wurden in nur zwei Tagen 300 Karten verkauft. Mittlerweile haben die Wiener Philharmoniker die lippische Idee des Kinder-Abos für vier- bis sechsjährige Jungen und Mädchen übernommen. Beim »Concertino Piccolini« hocken die Jungen und Mädchen auf Sitzkissen auf der Erde, sie üben Tänze ein, die ins Konzert integriert werden. Maskottchen, in diesem Jahr eine Maus, dienen als Erkennungszeichen der Reihe.
Das Abonnement gewöhne Kinder an klassische Musik und an Stetigkeit, sagte Thalmann. Die Weichen für den Musikgeschmack würden immer früher gestellt; deshalb seien kindgerechte Konzerte unerlässlich, damit klassische Musik nicht als das Leben bereichernde Facette abendländischer Kultur wegbreche. Während China das Schulfach »Musikgenuss« eingeführt habe, sende in Deutschland nur noch der Bayerische Rundfunk ein Jugendmagazin mit klassischer Musik, bedauert Thalmann.

Artikel vom 09.11.2006