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EU spielt »schwarzer Peter«

Brok enttäuscht über »wachsweiches Verhalten« gegenüber der Türkei

Von Dirk Schröder
Brüssel/Bielefeld (WB). Absolutes Unverständnis über die »Taktiererei und das wachsweiche Verhalten« der EU-Kommission gegenüber der Türkei hat gestern der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Europaparlaments, der Bielefelder CDU-Abgeordnete Elmar Brok, geäußert.

In ihrem Fortschrittsbericht forderte die Kommission gestern in Brüssel die Türkei zwar zum Einlenken im Streit um die Anerkennung Zyperns auf, setzte Ankara aber eine Frist bis zum EU-Gipfel am 14. und 15 Dezember. Dann wollen die Staats- und Regierungschefs über die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen entscheiden. Öffne die Türkei ihre Häfen und Flughäfen nicht für Schiffe und Flugzeuge aus Zypern, so werde die Kommission dem Gipfel »sachdienliche Vorschläge machen«, sagte Erweiterungskommissar Olli Rehn.
Für den enttäuschten Brok ist dies kein Ultimatum. Die Kommission sei einer abschließenden Bewertung, insbesondere was die ungelöste Zypernfrage angehe, ausgewichen. »Die Kommission macht sich nicht nur gegenüber der europäischen Öffentlichkeit unglaubwürdig. Sie schwächt auch die EU-Verhandlungsposition gegenüber der Türkei, zeigte sich Brok verärgert.
In dem Fortschrittsbericht kritisiert die Kommission massiv das Tempo der politischen Reformen in der Türkei. Bedauert werden fortdauernde Verstöße gegen wichtige Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Rehn wies auf den nach wie vor beachtlichen Einfluss des Militärs hin und forderte weitere Anstrengungen zur Stärkung der Religionsfreiheit von Nicht-Muslimen der Frauen- und der Gewerkschaftsrechte. Auch gebe es weiterhin Berichte über Folter.
Brok vermisst, dass die Kommission aus der Auflistung dieser Defizite keine Konsequenzen ziehe. Stattdessen weiche sie Entscheidungen aus und reiche den schwarzen Peter an den EU-Gipfel weiter. Der CDU-Politiker fürchtet, die Akzeptanzkrise der EU könne durch die wenig überzeugende Handhabung des Erweiterungsprozesses seitens der Kommission verschärft werden.
Die ostwestfälische SPD-Europaabgeordnete Mechtild Rothe (Bad Lippspringe) dagegen begrüßte den Bericht: »Die Kommission übt berechtigte, aber auch ausgewogene Kritik.« Rothe hält es für richtig, dass die Kommission in der Zypern-Frage keine politische Empfehlung gegeben habe. Damit bestehe die Chance für alle Seiten, sich konstruktiv aufeinander zu zubewegen und bis zum Gipfel eine tragbare Entscheidung zu finden. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan dämpfte gestern jedoch Erwartungen eines Entgegenkommens in der Zypern-Frage.
In einem Papier über die Erweiterungsstrategie heißt es, künftig seien »Beitritte großer Ländergruppen unwahrscheinlich«. Rehn sagte, vor der Aufnahme neuer Mitglieder - als wahrscheinlich nächstes Beitrittsland gilt Kroatien - sollte es eine institutionelle Einigung über besseres Funktionieren und mehr Effizienz der EU gegeben haben. Rehn bekräftigte die »europäische Perspektive« für die Balkan-Staaten.
Indirekt räumte die Kommission ein, dass die Bürger in der Vergangenheit auf die EU-Erweiterungen nicht ausreichend vorbereitet worden seien. Künftig müssten die Mitgliedstaaten, die für den Erweiterungsprozess eintreten, ihren Bürgern besser erklären, welche konkreten Vorteile sie sich von der Erweiterung versprechen.
Brok nannte Rehns Erweiterungsstrategie mehr als dünn. Sie sei fast noch schlimmer als der Fortschrittsbericht, denn sie enthalte noch weniger Antworten. So gebe es zu den finanziellen Voraussetzungen künftiger Erweiterungen nur allgemeine Aussagen. Brok: »Die Gefahr einer Überdehnung der EU kommt bei Rehn praktisch nicht vor.«

Artikel vom 09.11.2006