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Erbitterter Kampf um
ein Kirchner-Gemälde

Anwalt forderte vor Versteigerung Beschlagnahme

New York/Berlin (dpa). Unmittelbar vor der für die vergangene Nacht geplanten Versteigerung des Kirchner-Gemäldes »Berliner Straßenszene« (1913) hat sich der Streit um das Schlüsselwerk des deutschen Expressionismus gestern verschärft.
Streitobjekt: Kirchners »Berliner Straßenszene« steht in New York zur Versteigerung. Foto: dpa

Der Münchner Rechtsanwalt Martin Amelung verlangte, das wertvolle Ölgemälde noch vor der geplanten Versteigerung in New York zu beschlagnahmen. Es bestehe der Verdacht, dass das Bild zu Unrecht als Raubgut eingestuft worden und deshalb auch die Rückgabe an die Erben rechtswidrig gewesen sei.
Die Stadt Berlin hatte die »Straßenszene« von Ernst Ludwig Kirchner im Juli an die Erben einer von den Nazis verfolgten Kunstsammler-Familie zurückgegeben, die es jetzt über das Auktionshaus Christie's zum Verkauf anbieten. Der Schätzpreis lag bei 18 bis 25 Millionen Dollar.
Amelung sagte in Berlin, die Staatsanwaltschaft müsse umgehend versuchen, im Wege der Rechtshilfe die Beschlagnahme des Gemäldes zu erreichen. Gleichzeitig erstattete der Anwalt im Auftrag eines Münchner Kunstsammlers Strafanzeige gegen den Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und seinen (Noch-)Kultursenator Thomas Flierl (Linkspartei) wegen »Verdachts der Untreue beziehungsweise veruntreuenden Unterschlagung«. Die sogenannte Rückübertragung des Bildes an die Erben stehe unter dem Verdacht einer »willkürlichen Schenkung«.
Schon zuvor hatte der Freundeskreis des Berliner Brücke-Museums, in dem das Bild früher hing, Strafanzeige gegen Flierl sowie Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) und Kulturstaatssekretärin Barbara Kisseler wegen Verdachts der Untreue gestellt. Flierl hatte dagegen betont, dass die Rückgabe nach »sorgfältiger Prüfung« erfolgt sei. Nach Angaben eines Berliner Justizsprechers werden die Anzeigen gegenwärtig »mit dem Ziel einer zeitnahen Entscheidung« bearbeitet.
Die Versteigerung in New York ist im Rahmen der gestern angelaufenen traditionellen Herbstauktionen geplant. Bei Christie's soll die Versteigerung von impressionistischer und moderner Kunst diese Woche sowie von zeitgenössischen Werken in der kommenden Woche zwischen 500 und 710 Millionen Dollar bringen.
Das Kunsthaus Sotheby's geht mit Werken zu einem Schätzpreis von bis 580 Millionen Dollar an den Start. Nach Angaben beider Häuser ist das Angebot so hochkarätig und umfassend wie noch nie: von Pablo Picasso über Gustav Klimt, Paul Gauguin, Paul Cézanne bis zu Francis Bacon und Andy Warhol. Die »Straßenszene« von Kirchner ist nach Einschätzung von Christie's das wichtigste Bild des deutschen Expressionismus, das je bei einer Auktion angeboten wurde.

Artikel vom 08.11.2006